Dresden, 30.07.2024
Liebe Leser:innen,
wenn jemand abgeschoben werden soll und sich viele Menschen darüber empören, werden verständlicherweise Aussagen über die Person des Betroffenen gemacht. Es ist eine verzweifelte Situation: Menschen versuchen sowohl die deutsche Justiz und Bürokratie als auch die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass gerade diese Person es wert ist, zu bleiben. Im Mittelpunkt stehen (auch hier verständlicherweise) die Erwartungen Deutschlands, das ja schließlich die Entscheidung treffen wird: Von Arbeitswilligkeit ist die Rede, von Integrationsbereitschaft, von Familienanschluss, von bisher gezahlten Steuern oder zur Not auch von der bestandenen Führerscheinprüfung oder dem schönen Lächeln, um der gängigen Argumentation für Abschiebungen entgegenzuwirken. Vielleicht wird noch eine sehr traurige Geschichte aus ihrem Leben ausgepackt, die Mitleid erregt, was bei den Nicht-Gefährdeten bestenfalls zu Widerstand, zumindest aber zu Neutralität führen soll. Ein Mensch wird vor aller Augen so lange entkleidet, bis sich etwas “Brauchbares” findet, das ihn in Deutschland hält. Alles aus gutem Willen.
Hier und da funktioniert dieses Narrativ und die damit verbundene Empörung: Wenn genügend Unterschriften zusammenkommen, wie im letzten Beispiel, kann es sein, dass sogar Armin Schuster, der Innenminister der Abschiebungen und Grenzkontrollen, eine Aussetzung der Abschiebung anordnet. „Seht her“, heißt es am Ende: „Wenn es wirklich dramatisch wird, kommen wir und retten!“ Sie schenken uns Erleichterung, sie schenken uns Freude. Der zunehmende Populismus im Abschiebungsdiskurs macht es noch deutlicher: Das Gesetz wird umgangen und es wird auf das geschaut, was die Mächtigen sagen. Abschiebung wird zur Strafe – durch die Rede von „Intensivtätern„ oder (noch größeren) Abschiebegefängnissen. Hier und da gibt es freilich auch Amnestien, wenn von Strafe die Rede ist.
Wie funktioniert die Amnestie?
Der französische Philosoph Michel Foucault beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Teilhabe an der Strafe am Beispiel öffentlicher Hinrichtungen und verweist dabei auch auf die Rolle der Amnestie als etwas Machtdemonstratives: „Der Monarch ist im Vollzug (der Hinrichtung) nicht nur als die Macht präsent, die das Gesetz rächt, sondern auch als die Macht, die das Gesetz und seine Rache außer Kraft setzen kann“.
Die zuschauenden Massen, die sich widersetzen könnten, werden unter anderem durch die Hoffnung auf oder das Flehen um Amnestie in der Sphäre der souveränen Macht gehalten. Selbst im Moment des Widerspruchs bestätigen sie hilflos die Argumente der Mächtigen, wenn sie sich darauf beschränken, sie zu widerlegen. Wenn die Macht sagt: „Die sind faul und haben kriminelle Instinkte!“, dann versucht man zu zeigen, dass dieser eine doch nicht faul ist und so freundlich und schön lächelt. Das rettet vielleicht den einen, aber gewissermaßen auf Kosten aller anderen.
Der Weg in die Hölle
Es gibt ein weltbekanntes Sprichwort: „Der Weg in die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert“. Während das eine oder andere Opfer eines „Skandals“ durch eine erkämpfte Amnestie gerettet wird, werden viele andere in den Flieger gesetzt und niemand spricht über ihr schönes Lächeln oder darüber, ob sie sich gerne integriert hätten. Aymen aus der Dresdner Neustadt zum Beispiel, der nach 9 Jahren in Deutschland nach Tunesien abgeschoben wurde und dessen Gesicht nun spurlos aus dem Kiez verschwinden wird, dessen Kleider schon in einer Umsonst-Kiste verteilt wurden: Er war weder Engel noch Teufel, sondern ein Mensch mit Ambivalenzen wie wir alle. Darum ging und geht es nicht. Seine Abschiebung war vielleicht kein „Skandal“ (denn ein Skandal ereignet sich immer im Sinne machtpolitisch gesetzter Grenzen, die in Bezug auf Geflüchtete weit verschoben sind), aber dennoch inakzeptabel – nicht weil er ein schönes Lächeln hat, sondern weil Abschiebungen einem verlogenen und verblendeten Ansatz folgen, der einer grundsätzlichen Lösungsdebatte entgegensteht. Doch nur eine solche Debatte kann die Probleme an der Wurzel packen, die letztlich auch für die Flucht von Millionen Menschen verantwortlich sind.
„Keine:r oder alle“ ist ein anderes weltbekanntes Sprichwort, das vor allem in den antikolonialen Kämpfen seinen Widerhall fand. Mit „Refugees unite!„ wollen wir formulieren, warum unsere Schicksale miteinander verbunden sind und warum wir uns auf dieser durchaus materiellen Grundlage zusammenschließen sollten. Wir, die wir ein gemeinsames Interesse an einem grundlegenden Wandel hin zu einer gerechten und friedlichen Welt sehen.
Kommt am 9. und 10. August in den Dresdner Alaunpark und schließt euch uns an – ob zum Schreien, Tanzen, Spielen, Diskutieren oder Feiern. Zusammen, und nur zusammen, sind wir stark.
…und: “Wenn wir zusammen gehen, geht mit uns ein schöner Tag”
Berichte aus dem Verein
100plusX: 75-Marke geknackt!
Bei unserer Spendenkampagne “100plusX”, bei der wir 100 Dauerspender:innen gewinnen wollen, haben wir dank eurer Unterstützung die 75-Marke geknackt! Vielen Dank an alle, die unsere Arbeit (mit oder ohne Spende) unterstützen und uns Gehör verschaffen. 🙂
Abschiebung von Robert A. in letzter Minute vorläufig gestoppt
Robert A. (31 Jahre) wurde aus der Abschiebungshaftanstalt in Dresden von der Polizei abgeholt und zum Flughafen in Frankfurt am Main gebracht. Von dort sollte er mit einem Charterflug in ein Land abgeschoben werden, in dem er noch nie war und dessen Sprache er nicht spricht. Ein breites Bündnis setzte sich dafür ein, dass der Chemnitzer bleiben darf. Vorerst mit Erfolg: Kurz vorher wurde die Abschiebung von Robert A. unterbrochen. In letzter Minute lenkte das Sächsische Innenministerium ein. Innenminister Schuster erklärt, die Rückführung von Robert A. „zu unterbrechen“, die Behörden sollten den Fall erneut prüfen.
Wir haben die erfolgreiche Kampagne gegen seine Abschiebung mitorganisiert und dazu mehrere Veröffentlichungen auf unserer Homepage bzw. in lokalen und überregionalen Medien initiiert.
Pressemitteilung: Untersuchungsausschuss IM: Mangelnder Datenschutz gefährdet tausende Personen
Dem Untersuchungsausschuss zur Mittelvergabe über die Richtlinie Integrativen Maßnahmen (RL IM) liegen weitreichende Unterlagen zum Förderverfahren vor. Darin enthalten sind die persönlichen Daten von mehr als 1000 Personen. Die betroffenen Organisationen kritisieren den mangelnden Datenschutz und befürchten eine konkrete Gefährdung benannter Personen, da die Daten über die AfD in rechte Netzwerke gelangen könnten.
Gemeinsame Pressemitteilung von RAA Sachsen, Sächsischer Flüchtlingsrat, Kulturbüro Sachsen.
Solidarität statt Kahlschlag – Für eine faire Förderung der Zivilgesellschaft in Sachsen
Während sich die autoritäre Verschiebung verschärft und die Landtagswahl ihren Schatten voraus wirft, befinden sich die Träger und Projekte der sächsischen Integrationslandschaft in einer Krise. Eine Vielzahl an Projekten konnte in den letzten Monaten nicht oder nur eingeschränkt arbeiten, ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Träger musste Insolvenz anmelden. Langjährige Mitarbeiter*innen mussten in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Die Folgen sind weitreichend und zeigen sich am Offensichtlichsten im Wegbrechen von zentralen Beratungs- und Unterstützungsangeboten für gesellschaftlich benachteiligte Personengruppen. Sie gefährden aber auch den sozialen Zusammenhalt insgesamt. Der Grund für diese Entwicklung liegt in den geänderten Förderregularien des Landes. Es droht ein Kahlschlag in der sächsischen Integrationslandschaft. Diese Entwicklung ist ein nicht hinnehmbarer Rückschritt, gegen den wir uns als zivilgesellschaftliche Träger der Integrationsarbeit positionieren.
Trotz Gerichtsbeschluss abgeschoben: Der Fall aus Chemnitz sorgt für Aufsehen
Mehdi N., ein Marokkaner, wurde aus Chemnitz abgeschoben, obwohl das Verwaltungsgericht dies untersagt hatte. Nach Angaben seiner Anwältin haben sich die Verantwortlichen der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen dem Gerichtsbeschluss widersetzt. Die Sachbearbeiterinnen erklärten, sie fühlten sich nicht an den Beschluss gebunden und weigerten sich, ihn an die Bundespolizei weiterzuleiten. Wir haben den Fall mit einer Pressemitteilung an die Öffentlichkeit gebracht.
Die Landtagsabgeordnete der Linksfraktion, Juliane Nagel, stellte eine Kleine Anfrage zu dem Fall und mehrere lokale und überregionale Medien berichteten.
Nachdem die Landesdirektion Sachsen sowohl gegenüber der Anwältin als auch gegenüber den Medien den Fehler eingeräumt und Kontakt mit der deutschen Botschaft in Marokko aufgenommen hatte, um die Rückholung des Abgeschobenen zu erreichen, kam die nächste überraschende Nachricht: Das Oberverwaltungsgericht hat die beiden Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Chemnitz (zur Untersagung der Abschiebung und zur Rückholung des Abgeschobenen) aufgehoben. Rechtsanwältin Stremlau prüft nun, ob eine Verfassungsbeschwerde möglich ist. Dennoch bleibt der Skandal, dass Mehdi N. trotz Gerichtsbeschluss abgeschoben wurde bzw. seine Abschiebung trotz Gerichtsbeschluss nicht gestoppt wurde.
Inga Stremlau, die Anwältin von Mehdi N., bewertet in einer ersten Stellungnahme den aktuellen Stand wie folgt: “Mit der Begründung des Oberverwaltungsgerichts, warum ein Abschiebungshindernis in diesem Fall nicht begründet sei, bin ich nicht einverstanden, da das Gericht z.B. argumentiert, dass Herr N. und seine Ehefrau zu weit voneinander entfernt gelebt hätten, um die Ehe als Abschiebungshindernis zu werten. Dies lag aber schlichtweg außerhalb der Kontrolle meines Mandanten, da er als Geduldeter einer Residenzpflicht unterlag und somit nicht ohne Erlaubnis aus Chemnitz wegziehen durfte. Den für den Umzug erforderlichen Antrag hatte der Mandant bereits vor Monaten gestellt, er wurde jedoch von der Stadt Chemnitz nicht bearbeitet. Ich werde daher prüfen, ob eine Verfassungsbeschwerde zu erheben ist. Grundlage könnte zum Beispiel ein Verstoß gegen Artikel 6 des Grundgesetzes sein, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt”.
Darüber hinaus betont Stremlau, dass die neuen Gerichtsbeschlüsse nichts an dem ursprünglichen Skandal ändern: “Am Tag der Abschiebung haben sich die Behörden bewusst über einen Gerichtsbeschluss hinweggesetzt, an den sie gebunden waren. Ich werde daher nicht von meinem Vorhaben abrücken, Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden gegen die beteiligten Sachbearbeiter*innen bei der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen zu erheben. Die Exekutive hat sich hier über bindende Entscheidungen der Judikative hinweggesetzt. Das ist ein Verstoß gegen unser Gewaltenteilungsprinzip. Ein solcher Angriff auf rechtsstaatliche Prinzipien muss Konsequenzen haben. Denn wenn diese Entscheidung nun eine falsche Signalwirkung entfaltet und andere Exekutivorgane ermutigt, es ihren Vorbildern in Chemnitz gleichzutun, dann ist unser Rechtsstaat nichts mehr wert. Hier ist eine Schwelle überschritten worden, die in einem Rechtsstaat nie hätte überschritten werden dürfen.”
Die Anwältin glaubt auch nicht, dass es sich um einen Einzelfall handelt.
Richtigstellung: Aufgrund des damaligen Kenntnisstandes schrieben wir in unserer Pressemitteilung, dass der abgeschobene Mann und seine deutsche Ehefrau gemeinsame Kinder hätten. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass die beiden Kinder jeweils von anderen Partnern stammen. Mehdi N. hat zwar eine Tochter mit deutscher Staatsangehörigkeit, aber nicht von seiner jetzigen Ehefrau.
BIENVENIDOS! berichtet
Unser Projekt “BIENVENIDOS!” berichtet: “Im Projekt BIENVENIDOS haben wir im Monat Juli unter anderem unser lateinamerikanisches Sommerfest in Chemnitz durchgeführt, im bestens gefüllten Zentralkino Dresden die brandneue Venezuela-Doku „Das Land der verlorenen Kinder“ gezeigt und in einem Online-Vortrag die gegenwärtige Menschenrechtssituation vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen in Venezuela diskutiert. Nach Ablauf der Hälfte unserer Projektlaufzeit wollen wir im August eine erste Bilanz ziehen und von unseren spanischsprachigen Ratsuchenden wissen, welches Feedback sie zu unseren bisherigen Aktivitäten haben und welche Veranstaltungen und Themen noch gewünscht sind, die wir bis zum Jahresende noch umsetzen können. Dazu laden wir am 07. August zu einem digitalen Zwischenauswertungstreffen ein.”
Mehr dazu im Projekt-Newsletter.
Veranstaltungshinweise
„Refugees unite!: Am 9. und 10. August im Alaunpark in Dresden
Das selbstorganisierte Treffen von Geflüchteten unter dem Motto “Refugees unite!” findet am 9. und 10. August im Alaunpark in der Dresdner Neustadt statt.
Am Freitag findet es ab 14 Uhr nur im Alaunpark statt: Ein 8-stündiges Bühnenprogramm, Kinderecke mit Hüpfburg, Infostände, leckeres Essen, Turniere und vieles mehr.
Am Samstag treffen wir uns wieder um 14 Uhr im Alaunpark, um uns der Demonstration “Für eine gerechte und friedliche Welt für ALLE!” anzuschließen. Hierfür ist es erwünscht, dass alle ihre eigenen Transpis oder andere Demo-Zubehör mitbringen. Ab 18 Uhr sind wir dann wieder im Alaunpark, um uns von geflüchteten Künstler:innen beeindrucken zu lassen.
Folgt uns auf Instagram, um kein Update zu verpassen: @refugeesunite
Wir freuen uns auf euch!
Offenes Zwischenauswertungstreffen Projekt BIENVENIDOS (spanisch)
Herzliche Einladung zum kommenden lateinamerikanischen Sommer- und Grillfest am 6. Juli ab 14:00 Uhr vor dem Umweltzentrum Chemnitz!
Nach Ablauf der Hälfte unserer Projektlaufzeit haben wir bereits zahlreiche Informationsveranstaltungen, interkulturelle Aktivitäten sowie Beratungen für die venezolanische und spanischsprachige Community durchgeführt und wollen nun ihr Feedback zu vergangenen und möglichen weiteren Aktionsideen bis Jahresende einholen. Die Veranstaltung wird in spanischer Sprache online via Zoom stattfinden.
Mehr Infos.
WANN: am 7. August 2024 um 16:00 – 17:00 Uhr
WO: Online via Zoom
Drei Stimmen aus der Presse
- Sachsen: Kein Schulplatz für 1600 Kinder und Jugendliche ohne deutschen Pass – deutschlandfunk
“Ein Fall, der fast unglaublich klingt: In Sachsen gibt es im Moment rund 1600 Schülerinnen und Schüler, die nicht zur Schule gehen können, weil es keinen Platz für sie gibt. Betroffen sind Kinder, die keinen deutschen Pass haben und das sorgt natürlich für viel Protest.”
- Bedrohte Bewegungsfreiheit – medico international
„Ousmane Diarra von der Vereinigung Abgeschobener in Mali über die Situation von Migrant:innen in Nordafrika und die Auswirkungen geopolitischer Veränderungen.“
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Betreiber wegen „gravierender Mängel“ gekündigt – Tagesschau
„Das Berliner Landesamt für Flüchtlinge hat einem bundesweit tätigen Betreiber von Flüchtlingsunterkünften außerordentlich gekündigt, wegen „gravierender Mängel“. Nach Monitor-Recherchen soll über Wochen ein verstorbener Bewohner abgerechnet worden sein.“
Bildquellen
- 240725_robert_demo_chemnitz: Sächsischer Flüchtlingsrat