Tod in Windeln – Text eines Fliehenden aus der Türkei

Dies ist die Geschichte einer Reise zur Hoffnung. Sie handelt vom Wunsch und dem Bemühen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Doch diese Geschichte wirft Schatten, die größer sind, als ich mir vorstellen konnte.

Von Yunus Altan*

TRIGGERWARNUNG: Tod

Ich packe einfach meine Koffer und akzeptiere, dass ich als Angehöriger einer Minderheit in diesem Land nicht mehr in der Lage bin, ein freies Leben zu führen. Es sind politische Umstände, die mich zur Flucht zwingen, keine finanziellen. Also verkaufe ich meine wenigen Habseligkeiten und mache mich auf den Weg – ohne meiner Familie in der Türkei Bescheid zu sagen.

Ich komme in einem anderen Land an und warte in einer schäbigen Unterkunft auf den Anruf der Leute, die uns über die Grenze bringen wollen. Hier lerne ich einige Menschen kennen, die einen ähnlichen Weg gehen. Einige kommen, nachdem sie ihre Häuser verkauft haben, andere fragen Bekannte nach Geld und wieder andere nehmen einen Kredit bei der Bank auf. Manche sind allein wie ich, manche mit ihren Ehepartnern und Kindern, manche mit ihren Müttern und Vätern. Doch sie alle haben ein gemeinsames Anliegen: ein menschenwürdiges Leben.

Das Telefon klingelt spät in der Nacht. Wir machen uns alle schnell fertig. Da ich nicht weiß, wie weit wir vor Reisebeginn laufen müssen, werfe ich ein paar Klamotten in meine Tasche und fülle sie mit Wasser und Essen. Wir quetschen uns in ein Taxi und fahren Richtung Grenze. In diesem Moment läuft meine Lebensgeschichte noch einmal vor meinem inneren Auge ab. Ich ahne, dass nun ein völlig neues Kapitel beginnt. Nach einigen Stunden nähern wir uns einem Wald. Als das Fahrzeug anhält, rennen wir schnell in den Wald.

Hier treffen wir Menschen, die aus anderen Regionen und auf anderem Wege angereist sind. Fluchthelfer sammeln unsere Pässe ein und wir gehen mit ihnen tiefer in den Wald hinein. Sie bitten uns, leise zu sein. Es ist offensichtlich, dass sie diesen Weg schon einmal gegangen sind. Wir wandern mit kurzen Pausen stundenlang bis zum Sonnenaufgang. Ich teile das Wasser und das Essen, mit dem ich meine Tasche gefüllt habe, mit den anderen Leuten. In diesem Moment treffe ich eine Frau mit einem kleinen Baby auf dem Arm.

Ihr Mann ist vor drei Monaten nach Deutschland gegangen. Sie sagt, dass sie ihre Ersparnisse aus zwei Jahren ausgegeben hat, um sich und ihre Kinder nach Deutschland zu bringen. Sie wartet schon seit mehreren Tagen im Wald und das Baby ist viereinhalb Monate alt. Vor Jahren flohen sie aus Syrien in die Türkei. Nachdem sie dort etwas gespart hatten, beschlossen sie, nach Deutschland zu gehen. Ihr Mann dachte, dass der Weg gefährlich sein könnte, und ging allein voraus. Auf solchen Routen verschwinden häufiger Menschen, besonders Frauen. Sie sagt, sie sei ohne ihn schlaflos in den Nächten und übermüdet am Tage – so macht auch sie sich auf den Weg. Denn legale Wege dauern Jahre und sind häufig erfolglos. Bei einer kleinen Pause setzt sie sich hin und gibt ihrem Kind Milch.

Während der Pause spreche ich auch mit anderen Menschen. Ich spreche mit einer Frau, die einen Gehstock in den Händen hält, sie ist mit ihrem Sohn unterwegs. Er erzählt mir, dass seine ganze Familie seit Jahren über diese Routen in europäische Länder flieht. Als er ihnen folgen will, kann er seine Mutter nicht allein zurücklassen, also muss er sie mitnehmen. Einer der Schleuser ruft, dass wir jetzt weiterlaufen müssen.

Wir unterhalten uns leise mit ein paar jungen Leuten am Wegesrand. Wir erzählen uns gegenseitig von all unseren Hoffnungen, die wir verwirklichen wollen. Wir versinken in unerfüllten Träumen auf einer endlosen Straße, bedauern, was wir zurückgelassen haben, und fürchten, noch vor dem Erreichen unseres Ziels erwischt zu werden. Die klirrende Kälte des Waldes lässt uns im Klang des Vogelgezwitschers erstarren. Egal, wie viele Schichten Kleidung man trägt, es nützt nichts – die Kälte bleibt unbarmherziger Sieger.

Einerseits gehen wir in die Ungewissheit des Waldes, ohne einen Laut von uns zu geben, andererseits schmerzt uns das Weinen eines wenige Monate alten Babys, das in Windeln gewickelt ist. Ich drehe mich um und schaue hinter mich: einige mit einem Gehstock in der Hand, andere mit einem Schnuller im Mund. Doch diese Flucht lässt uns alle altern. Nach einer Weile nähern wir uns einer Grenze, die mit Drahtzäunen bedeckt ist. Alle versuchen, so schnell wie möglich über die Landesgrenze zu kommen und im Wald zu verschwinden.

Zu diesem Zeitpunkt trifft die Grenzpolizei ein und Chaos bricht aus. Die Fluchthelfer versuchen, die Polizei fernzuhalten, einige Leute haben Angst und rennen weg. Andere rennen sich gegenseitig um und versuchen, die Grenze schnell zu überqueren. Nachdem sich die Polizisten ein Stück entfernt haben, rennen wir alle in den Wald. Dann sehe ich die junge Mutter wieder. Sie hat eines ihrer kleinen Kinder an der Hand, auf dem Arm trägt sie ihr Baby. Sie schüttelt es, aber es kommt kein Ton heraus.

Wir bleiben plötzlich alle stehen und versammeln uns um sie. Stille. Wir warten darauf, dass das Baby ein Geräusch von sich gibt, aber es bleibt stumm. Die Frau fängt an zu weinen und schreit. Ich kann mich nicht mehr beherrschen und fange auch an zu weinen. Alle überlegen, was sie tun sollen, schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, hocken sich hin und weinen mit der weinenden Frau. Nach etwa einer halben Stunde nimmt ein anderer Mann der Frau das Baby ab. Er wickelt es aus seinem Tuch und sagt ihr, dass das Baby tot ist.

Wir wissen es alle, und dennoch muss es jemand aussprechen. Er sagt ihr, dass sie nichts mehr tun kann, dass sie sich der Polizei stellen und ins Krankenhaus gehen kann, wenn sie will, aber für eine Rettung ist es zu spät. Die Frau nimmt das Baby in ihre Arme und weint mehrere Stunden lang. Unsere Fluchthelfer sprechen mit der Frau und fragen sie, was sie tun will. Die Frau übergibt ihnen ihr lebloses Baby und beginnt, das andere kleine Kind neben sich zu umarmen und zu küssen.

Nach einer Weile geht einer der Fluchthelfer mit dem Baby im Arm von der Frau weg in den Wald. In diesem Moment nehmen einige der Frauen die Mutter und ihr kleines Kind an die Hand und gehen einige Meter in eine andere Richtung. Die Leute neben mir und ich folgen dem Fluchthelfer, ohne zu wissen, was wir tun sollen. Er bedeckt das Gesicht des Babys vollständig mit einem Tuch und lässt den kleinen Körper auf einem kalten Stein liegen.

In meiner Überforderung weiß ich nicht, was ich tun und sagen soll. Einige beginnen, den Weg mit Geäst zu versperren, und wir gehen weiter. Wir laufen den ganzen Tag lang, halten gelegentlich an und schauen hinter uns. Am Ende von einem Tag und zwei Nächten nähern wir uns einer Stadt. Wir werden in drei Gruppen aufgeteilt, die Frau und ihr Kind sind in einer anderen Gruppe und ich verliere sie aus dem Blick.

Aber nicht die Situation dieses kleinen verstorbenen Menschen. Sie hinterlässt tiefe Spuren bei mir. Sie geht mir immer noch nicht aus dem Kopf. Und wird es wahrscheinlich nie. Wir wussten nicht, was wir tun sollen, um es zu retten und die Verzweiflung der Frau zu lindern. Die Reise begann mit Hoffnung, sicher auch für diese Mutter. Nun werden mich diese Schatten verfolgen, obwohl ich noch nicht einmal am Ziel bin. Doch genau wie die Mutter des Babys laufe ich weiter, weil ich muss – und weil es für jeden Schatten eine Quelle des Lichts braucht.

*Da sich der Autor immer noch auf der Flucht befindet, wurde sein Name aus Sicherheitsgründen anonymisiert.

Teile diesen Beitrag: