„Alles geben“ ist nie genug – Vater aus Gaza darf seine Familie nicht wiedersehen

Selektiver Humanismus bestimmt hierzulande die Debatten um den Nahostkonflikt. Dieser erscheint mehr als deplatziert, während das reale Leid zehntausender Menschen in Palästina täglich steigt und selbst Essensausgaben zu tödlichen Fallen werden. Abdallah Alreqeb, 34 Jahre alt, lebt und arbeitet in Dresden. Verzweifelt versucht er, seine Familie aus der katastrophalen Lage im Gazastreifen zu befreien. Doch die Bundesregierung verhindert dies durch die Aussetzung des Familiennachzugs.

Die Lage in Chan Younis

Chan Younis war auch vor dem 7. Oktober 2023 keine normale Stadt. Im Süden des Gazastreifens bot der Ort vor dem Krieg rund 300.000 Menschen Platz – in Häusern und Flüchtlingslagern, die seit Jahren bestanden. Auch die Ehefrau, die 9-jährige Tochter und der 12-jährige Sohn von Abdallah Alreqeb leben hier. Seit Tagen kann er keinen Kontakt zu ihnen aufnehmen, da der Internetempfang wie Mobilfunk immer wieder unterbrochen wird – der Familenvater fürchtet ob und wie sie überleben.

Wie viele Menschen heute, nach flächendeckender Bombardierung und nahezu vollständiger Zerstörung der Infrastruktur durch das israelische Militär, dort noch leben, lässt sich kaum abschätzen. Unzählige Menschen starben, auch als sie sich in sogenannten „Safe Zones“ in Flüchtlingslagern befanden. Diese Zonen wurden von Behörden aus Tel Aviv für Evakuierungen empfohlen, aber dennoch aus der Luft attackiert – auch die Familie von Abdallah Alreqeb ist betroffen.

So verbrannte nach Raketenangriffen des israelischen Militärs auch das Zelt von Familie Alreqeb, die heute auf offener Straße leben muss und ums Überleben kämpft. „Ein Kilo Mehl kostet derzeit ungefähr 20 Euro, ein Kilo Zucker sogar um die 30 Euro – auch ohne Krieg wären das Preise, die die Menschen in den Hunger treiben würden“, sagt Abdallah Alreqeb. Egal, ob auf dem Luftweg, über das Meer oder auf Straßen: Die israelische Regierung blockiert seit Monaten Hilfslieferungen nach Gaza. Für die Rettung aus dem realen Albtraum, um den Familiennachzug seiner engsten Angehörigen, kämpft Abdallah Alreqeb von Dresden aus seit Jahren – leider vergebens.

Flucht und Asylverfahren in Deutschland

Obwohl sich Abdallah Alreqeb in Gaza gegen die Hamas wehrte und als Konsequenz bis heute sichtbare Narben aus dieser Zeit trägt, wurde sein Asylantrag zunächst abgelehnt – die Entscheidungen der Behörde erscheinen mehr als fragwürdig. Bis heute verweigert das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) die Anerkennung der Realitäten vor Ort, als könne die ganze Welt nicht die gezielte Zerstörung der gesamten Infrastruktur des Gazastreifens verfolgen und erkennen, dass dessen Wiederaufbau Jahrzehnte dauern würde.

Seit 2020 lebt Abdallah Alreqeb in Deutschland, nachdem er Chan Younis, den Gazastreifen und seine Familie verlassen musste. Sein Vater unterstützte als Politiker die Hamas, deren radikalen Weg Abdallah Alreqeb jedoch offen als falsch bezeichnete. Daraufhin wurde er mehrfach von Hamas-Anhängern attackiert und schwer verletzt. Das Hilfswerk der UNRWA registrierte ihn offiziell als Flüchtling.

Doch seine individuelle Bedrohungslage wurde von den deutschen Behörden angezweifelt; man warf ihm vor, zu lügen: „Mein Körper ist voller Narben von den Verletzungen, die mir Hamas-Leute zufügten. Aber weil ich mich zum Beispiel nicht an genaue Uhrzeiten dieser Taten erinnerte, wurde mir nicht geglaubt.“ Anschließend begann der Kampf um das Bleiberecht. Fünf Jahre später die Erlösung: Abdallah Alreqeb klagte erfolgreich gegen die Ablehnung seines Asylantrags und erhielt im Februar 2025 vor dem Verwaltungsgericht Dresden den subsidiären Schutzstatus, der ihn eigentlich zum Familiennachzug berechtigt hätte.

Politische Blockade des Familiennachzugs

Zwar reichte Abdallah Alreqeb fristgerecht den Antrag ein, doch sein Ziel wurde prompt von der politischen Realität in Berlin blockiert: Die Bundesregierung setzte den Familiennachzug für subsidiär Geschützte vorerst für zwei Jahre aus. Nach über fünf Jahren Trennung schafft es also die Bürokratie, den kleinen Hoffnungsschimmer erneut zu verdunkeln.

Abdallah Alreqeb wandte sich bereits an eine israelische Einheit des Verteidigungsministeriums namens COGAT (Coordinator of Government Activities in the Territories). Laut dem Familienvater wäre diese bereit, die Ausreise seiner Familie zu ermöglichen, benötigte dafür aber entsprechende Dokumente vom Auswärtigen Amt. Die deutsche Auslandsvertretung wiederum verlangte von Abdallah Alreqeb Papiere der israelischen Behörden. Doch der bürokratische Zirkel bleibt irrelevant, solange die Politik in Berlin keine humanitären Aufnahmeprogramme aus Palästina auflegt – beziehungsweise den Familiennachzug ermöglicht.

Internationale und deutsche Politik

Da die Regierung in Tel Aviv weiterhin die Vertreibung von Palästinenser*innen forciert, scheint eine friedliche Zukunft in Gaza eine ferne Utopie. Erst im Mai bestätigte Premierminister Benjamin Netanyahu in einer Videobotschaft das Ziel: „Wir werden die Kontrolle über alle Gebiete des Gazastreifens übernehmen“ – bis dies erreicht sei, sei keine Waffenruhe denkbar. Die Art der Kriegsführung der IDF und die fundamentalistische Rhetorik rechtsextremer Minister wie Ben Gvir und Bezalel Smotrich stoßen inzwischen auch auf Kritik westlicher Staaten. Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Australien und Norwegen verhängten Einreiseverbote gegen den israelischen Verteidigungs- und Finanzminister.

Die deutsche Regierung und Bundesbehörden hingegen negieren das Leid in Gaza. Aus Angst, die Staatsräson und Partnerschaft mit Israel zu gefährden, werden offenkundige Brüche des Völkerrechts von der Berliner Regierung unkommentiert gelassen. Trotz zehntausender ziviler Opfer und offener Vertreibungspläne gilt auch für Asylanträge von Palästinenser*innen ein Entscheidungsstopp beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Damit wird die offensichtliche humanitäre Katastrophe in Gaza ignoriert und die Not der palästinensischen Zivilbevölkerung verschärft.

Ein Appell an die Menschlichkeit

Abdallah Alreqeb kann nicht schweigen, er muss laut sein – um das Überleben seiner Familie kämpfen. „Wenn ich mit Leuten aus der deutschen Politik reden könnte, hätte ich nur eine Frage: Zählen die Menschen aus Gaza noch als Menschen für sie?“ – Der Umgang mit der Realität Schutzsuchender aus Palästina gibt darauf leider eine eindeutige Antwort. Abdallah Alreqeb erhielt den subsidiären Schutz, weil das Gericht eine kollektive Gefahr von Menschen im Gazastreifen anerkennt. 2024 wurden ungefähr 12.000 Visa für Angehörige dieser Schutzgruppe erteilt – bei etwa 120.000 Familiennachzugsvisa insgesamt, die vom Auswärtigen Amt genehmigt wurden. Familien von subsidiär Geschützten machten damit im letzten Jahr nur knapp 10 Prozent aller Fälle aus. Ende letzten Jahres lebten mehr als 380.000 Menschen mit diesem Aufenthaltsstatus in Deutschland, davon die Hälfte bereits länger als sechs Jahre.

Das nun durchgeführte Aussetzen des Nachzugs trifft damit Menschen, die längst Teil unserer Gesellschaft geworden sind – mit Arbeit, Wohnsitz, oft sogar mit deutscher Sprache und Ausbildung. Ein Ausschluss vom Familiennachzug erschwert das Ankommen und macht es vielen sogar unmöglich. Die extreme psychische Belastung durch langjährige Trennung bleibt häufig unbeachtet – ebenso wie das Signal, das dieser politische Kurs sendet: Wer nur „subsidiär“ geschützt ist, soll zwar funktionieren, aber nicht vollständig ankommen dürfen. Diese Menschen bestehen bürokratische Anstrengungen, erreichen verlangte Ziele im Job oder der Sprache und trotzdem wird ihnen der Kontakt zu ihrer Familie verwehrt. Gerade die Bedenken zu Kosten oder die Unterbringung sind herbeigeredet, denn: „Ich würde sofort alles selber zahlen für meine Familie. Der Staat müsste keinen Cent zahlen, dafür würde ich alles unterschreiben“, bekräftigt Abdallah Alreqeb. Eine Aussage, die wir in den vergangenen Jahren immer wieder von verzweifelten Familienangehörigen hörten.

Expert*innen und Menschenrechtsorganisationen warnen: Ein pauschales Aussetzen ohne Einzelfallprüfung verletzt – darunter Artikel 6 des Grundgesetzes und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Auch die UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet Deutschland dazu, familiäre Bindungen zu achten und das Kindeswohl vorrangig zu behandeln. Für Betroffene wie Herr Alreqeb und seine Familie bedeutet das nicht nur einen Rückschritt für ihre Lebensplanung, sondern die Erkenntnis, dass sich eine nach rechts neigende Politik von der Empathie abwendet. So wie im Jahr 2016, als der Familiennachzug das erste Mal ausgesetzt wurde. Die damals angekündigten Härtefallregelungen (§ 22 AufenthG) hatten in der Vergangenheit kaum Wirkung entfaltet. Auch heute ist es mehr als unrealistisch, ob es überhaupt Chancen auf diese Verfahren geben wird.

Der Stopp des Familiennachzugs trifft nicht nur statistisch eine Minderheit. Sie trifft mitten ins Herz einer Gesellschaft, die Solidarität und Teilhabe verspricht – und nun neue Mauern zwischen Familien errichtet.

 

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  • mohammed-ibrahim-RFByqAGwhmI-unsplash: Mohammed Ibrahim/Unsplash