Momox-Streik in Leipzig: Arbeiten, um zu bleiben

Wie Momox mit der Angst von Geflüchteten Geschäfte macht

von Osman Oğuz*

Der Himmel ist blau und die Sonne zeigt sich wieder, doch ein kalter Wind fegt über den Parkplatz des Momox-Lagerhauses in Mockau am Rande von Leipzig. Die Menge vor dem Gebäude lässt sich davon jedoch nicht vertreiben. “Du kannst uns nicht übersehen”, ruft Gewerkschafter Ronny am Telefon. Die Aufregung in seiner Stimme klingt nach historischer Bedeutung, von der mir später viele erzählen werden. Aus der Ferne ist bereits das Rufen der Streikenden zu hören. Bald sieht man auch ihr Transparent: “Wir wollen Respekt.”

Dies ist der erste Streik in der Geschichte des Unternehmens. Ein Akt der Selbstermächtigung, der unter widrigsten Bedingungen entstanden ist. Boris vom Betriebsrat, der selbst Logistikarbeiter ist, bringt es auf den Punkt: “Das ist ein historischer Moment, und ich bin unendlich stolz darauf!” Die Kolleg:innen sind gut gelaunt, lachen, klopfen sich gratulierend auf die Schultern und applaudieren ihrem eigenen Streik – Gesten der Solidarität und des Kampfes. Jeden Tag sind sie zum Arbeiten hier, heute sind sie gekommen, um nicht zu arbeiten. Für einen Tag entziehen sie sich einer Logik, die ihr ganzes Dasein bestimmt: der Logik der Verwertbarkeit und der Angst.

Das Geschäft mit der Prekarität

Hinter der Fassade des nachhaltigen Secondhand-Händlers Momox, der sich progressiv und weltoffen gibt, verbirgt sich ein anderes Bild: ein System, das die prekäre Lage von Geflüchteten ausbeutet. Seit 2012 hat sich der Umsatz des Unternehmens von 58 auf 377 Millionen Euro mehr als versechsfacht. Doch an denjenigen, die in den Leipziger Hallen den Warenstrom am Laufen halten, ist dieser Boom spurlos vorbeigegangen. Sie berichten von existentiellen Nöten, stagnierenden Löhnen und Respektlosigkeit.

Schätzungsweise haben 70 Prozent der gesamten Belegschaft hier einen Migrationshintergrund. “Drinnen braucht man kaum Sprache – man muss nur arbeiten”, sagt Baraa Aljarad nüchtern und zeigt dabei auf das riesige Gebäude hinter sich. “Das passt für Ausländer.” Momox ist, so wird schnell klar, kein Arbeitgeber wie jeder andere. Das Unternehmen ist eine Anlaufstelle für diejenigen, die anderswo keine Chance bekommen. Menschen mit Duldung, mit unsicherem Aufenthaltsstatus, mit gebrochenem Deutsch. Sie arbeiten, um bleiben zu dürfen. Der Arbeitsplatz ist für sie nicht nur eine Einkommensquelle, sondern die Bedingung für ihr Recht, in Deutschland zu leben. Eine Falle aus Papier und Angst.

Arbeit aus Zwang

Mehmet

Mehmet, der seit fünf Jahren im Unternehmen ist, macht die Rechnung auf: “Momox nimmt die, die andere nicht nehmen. Duldung, keine Sprache – egal. So haben sie billige Arbeitskräfte.” Was er beschreibt, ist die perfide Symbiose aus restriktiver Migrationspolitik und dem Profitstreben des Unternehmens. Die empfundene Drohung, von der der 53-jährige erzählt, bringt es auf den Punkt: “Momox sagt: ‘Wenn du nicht willst, dann kommt jemand anderes. Es gibt viele Menschen, die Arbeit suchen!’”

Was Mehmet berichtet, steht im nächsten Moment direkt vor uns: Aminullah aus Afghanistan kämpft seit Jahren darum, seine Frau und seine Kinder nachholen zu können. “Eigentlich möchte ich hier nicht arbeiten, sondern eine Ausbildung machen, aber das ist nicht möglich” sagt er. Der 26-Jährige lebt seit drei Jahren in Deutschland. Neben seiner 40-Stunden-Knochenarbeit hat er Deutsch gelernt. Er möchte wieder Sanitäter werden, wie er es in seiner Heimat war. “Ich muss einen Arbeitsvertrag haben, damit die Familienzusammenführung möglich wird. Ich muss also arbeiten, egal wie die Bedingungen hier sind.” Seine Stimme klingt resigniert, denn selbst mit dem Arbeitsvertrag klappt es mit der Familienzusammenführung nicht – die Behörden ziehen den Prozess immer länger hin.

Aminullah

Wer aus Angst arbeitet, wer täglich funktioniert, um bleiben zu dürfen – der arbeitet längst nicht mehr nur für den Lohn. Unter Kolleg:innen fällt deshalb manchmal das harte Wort “Sklave”. Es ist zwar eine überspitzte Metapher, doch sie beschreibt das Gefühl, keine Wahl zu haben. Das Gefühl, dass es egal ist, was mit ihnen passiert. Wenn Menschen arbeiten, weil sie sonst ihr Aufenthaltsrecht verlieren oder ihre Familie nicht nachholen können, ist die Grenze zwischen Zwang und Freiwilligkeit verschwommen.

“Gas geben!”

Die Forderung nach “Respekt” zieht sich wie ein roter Faden durch alle Gespräche. Doch was bedeutet das konkret? Mehmet nennt ein Beispiel für die viel erwähnte Respektlosigkeit: “Wenn sich ausländische Arbeiter unterhalten, kommt der Teamleiter sofort. Bei deutschen Kollegen senkt er den Kopf und geht weiter. Bei uns werden aus zwei Augen zehn.” Es ist die alltägliche Demütigung, die sich in allen Lebensbereichen zeigt. Die stille, aber stetige Botschaft lautet: Ihr seid hier nur geduldet. Ihr seid anders. Ihr seid nur etwas wert, wenn ihr das beweist – also, macht euch an die Arbeit!

Mohammed Rizwan

Mohammed Rizwan erlebt diese Missachtung anders. Der 32-jährige berichtet, dass er von der Personalabteilung schikaniert wird, sobald er krank ist. “Sie drohen mir mit Strafen.” Als sein Kind zuletzt krank war, fragte man ihn: “Wo ist deine Frau?” Sie solle doch aufpassen. Die Botschaft ist auch hier klar: Wir sind progressiv, wenn es uns passt. Ansonsten musst du die Rolle einnehmen, die dich am besten arbeiten lässt. Deine familiären Pflichten sind uns egal. Deine einzige Pflicht ist Leistung! 

Jahrelang hat Rizwan all das ertragen – Jahre, in denen er mit einer Duldung lebte. “Erst Ende 2022 wurde mir klar, dass ich mich kaputtmache”, sagt er. Seine Worte sind eine Anklage gegen ein System der systematischen Überlastung: “Selbst eine Maschine wird kaputt, wenn man sie zu schnell arbeiten lässt. Uns sagt man ständig: ‘Gas geben!’” Die Folge: Rücken, Knie, Beine – alles schmerzt. “Das muss endlich aufhören.”

Organisiert mit Händen und Füßen

Der Momox-Streik ist nicht nur deshalb historisch, weil es der erste in der Unternehmensgeschichte ist, sondern auch, weil er von Arbeiter:innen mit unzähligen Muttersprachen organisiert wurde. Dieser Stolz schwingt mit, wenn Mehmet auf die Frage, wie sie es geschafft haben, antwortet: “Wir sprechen mit Händen und Füßen. Trotzdem finden wir Wege, uns zu verstehen. Heute sind wir alle zusammengekommen.”

Das Unternehmen lehnt bisher alle Forderungen nach Tarifverhandlungen ab, so Verdi. Die Gewerkschaft zeigt sich entschlossen, den Arbeitskampf zu intensivieren, und setzt der Ignoranz des Unternehmens eine “demokratische Haltung” entgegen: “Es ist egal, woher wir kommen. Wir sind alle Arbeitnehmer:innen mit den gleichen Interessen und Träumen. Wir fordern Respekt!”

Die gebrochene Schweigemauer

Die historische Bedeutung dieses Streiks liegt auch darin, dass die Schweigemauer durchbrochen wurde. Er deckt die Widersprüche unserer Gegenwart auf: Menschen, die nur bleiben dürfen, wenn sie arbeiten, und Firmen, die davon profitieren, dass sie bleiben müssen.

Doch die Kundschaft von Momox, die sich mit dem Kauf von Secondhand-Waren oft auch moralisch gut fühlt, wäre wohl entsetzt, wenn sie wüsste, zu welchem Preis ihre “nachhaltigen” Einkäufe möglich sind. Genau hier liegt eine immense Macht der Streikenden. Sie entlarven den Widerspruch zwischen schöner Corporate-Fassade und hässlicher Arbeitsrealität. Sie zeigen: Das Geschäftsmodell von Momox beruht auf der Ausbeutung jener, die aus Angst schweigen. Doch jetzt brechen sie ihr Schweigen. Sie machen ihre Stimmen hörbar und ihre Gesichter sichtbar.

Der Erfolg des Streiks wird nicht allein das Werk der Entschlossenheit der Arbeiter:innen sein. Die Streikenden haben den ersten Schritt getan und ihre Angst überwunden. Jetzt ist es an der Zeit, dass die Gesellschaft ihnen zur Seite steht und gemeinsam mit ihnen sagt: Wir auch!

Momox: Kein Mehrwert durch Gewerkschaft Das Unternehmen Momox hat gegenüber dem MDR Sachsen deutliche Kritik an den Forderungen der Gewerkschaft Verdi geübt. Diese zeigten mangelnde Kenntnis des spezifischen Geschäftsmodells, so eine Unternehmenssprecherin. Momox sehe keinen Mehrwert für die betriebliche Mitbestimmung der Mitarbeitenden oder das Unternehmen selbst in den gewerkschaftlichen Bestrebungen. Das Unternehmen zahle überdurchschnittlich gut und biete langfristige Beschäftigungsverhältnisse sowie gute Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten.
Ronny
Baraa Aljarad

Mit GEAS wird alles noch schlimmer

Die Situation der Beschäftigten könnte sich bald weiter zuspitzen: Mit der Umsetzung des GEAS drohen neue Arbeitsverbote und Rückschritte in der Integrationspolitik. Statt Arbeitsmarktintegration zu fördern, erschwert der Gesetzesentwurf die Beschäftigung von Geflüchteten mit Aufenthaltsgestattung massiv – mit gravierenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Damit verschärft sich genau jener Kreislauf aus Angst, Abhängigkeit und Ausbeutung, den die Streikenden bei Momox zu durchbrechen versuchen. Die Arbeitsgruppe “Aufenthaltsverfestigung” der WIR-Netzwerke hat mit einem Positionspapier darauf aufmerksam gemacht.

Boris
Teile diesen Beitrag: