Querfeld #7 ist da: Diese Welt ist nicht unser Schicksal

Die 7. Ausgabe unserer Magazins „Querfeld“ ist erschienen! Titelthema: Selbstorganisierung der Geflüchteten. Im Querfeld sind wie bei jeder Ausgabe Texte zu finden, die verschiedenen Aspekte der Rechte und des Lebens von Geflüchteten (kritisch) beleuchten. Unsere Hoffnung ist, dass Querfeld all jenen als Aufrüstung dient, die sich unermüdlich für eine gerechte und friedliche Welt für alle einsetzen. Bestellen? Schreib uns eine Mail: pr@sfrev.de Ansonsten liegt das Magazin in unseren Büros und an unseren Infoständen aus. Hier ist eine Einführung in den Inhalt dieser Ausgabe.


von Osman Oğuz*

Liebe*r Leser*in,

wer das Wort aufgibt, gibt die Hoffnung auf – und wer sich um das Wort bemüht, bemüht sich um Veränderung. 

„Sich bewegen heißt leben, sich in Worte fassen heißt überleben“, sagte der portugiesische Philosoph Fernando Pessoa: „… eine Sache in Worte fassen heißt, ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen“.

Die Selk’nam aus Feuerland im heutigen Argentinien verehren genau diesen Gott, dessen Wunder überall auf der Welt erlebt werden: Die Mutter all ihrer Götter heißt Pemaulk – auf Deutsch: das Wort. 

Johannes beginnt sein Evangelium mit einem ähnlichen Verständnis: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“

Das Qabus-nama, verfasst von Ibn Qabus, Fürst der Ziyariden (Iran), im Jahre 1082, verkündet: „Das Wort ist nicht im Menschen (Adam) verborgen, sondern der Mensch ist im Wort verborgen.“

Diese Aussagen aus verschiedenen Ecken und Epochen der Geschichte verdeutlichen: Das Wort ist mächtig, und die (Beherrschung der) Erzählung ist entscheidend. Hier entsteht nicht nur ein Raum des Austauschs, sondern auch ein Schlachtfeld, auf dem der Zugang zu Aufrüstung an Bedeutung gewinnt. Dieser Zugang ist am stärksten durch die vielfältigen Ungleichheiten bedingt, denn “der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen”.

Doch kann hier nur von einem durchaus asymmetrischen Konflikt die Rede sein: Geschichte und Gegenwart sind voll von Sternstunden, in denen es den Unterdrückten oder Unterlegenen selbst unter widrigsten Bedingungen gelang, ihre Geschichte zu schreiben. Im von den Nazis belagerten Leningrad, wo die ausgehungerten Menschen bis zum letzten Vogel im Himmel essen mussten, entstand Schostakowitschs 7. Sinfonie, die der Stadt unter bittersten Bedingungen Kraft gab – selbst drei Musiker des Orchesters starben an Hunger, aber die Hoffnung lebte, die zum Sieg beitrug. Ebenso gelang es in vielen Beispielen den Kolonisierten, dem gewaltigen Diskursmonopol der Kolonialherren mit ihren oft nackten, aber wahrhaften Forderungen zu widerstehen.

In unserer heutigen Welt, in der einst das „Ende der Geschichte“ verkündet wurde, wird die Sache mit dem „Wort“ jedoch immer heikler. Einerseits wird ständig betont, man solle aufhören, an Träume (Utopien!) zu glauben und realistisch bleiben. Andererseits scheint die Welt von Wörtern und Informationen überflutet zu sein, die (wie Tagträume) im nächsten Moment und fast spurlos wieder verschwinden. Insta-Stories, Tiktok-Videos oder Tweets liefern hier und da ein Stück Realität, aber meist nur in schnell konsumierbarer Form. „Boah“ heißt es beim nächsten brutalen Bild, sei es von den Außengrenzen oder aus Kriegsgebieten, und schnell gleitet man zum nächsten Video, vielleicht das Rezept für eine orientalische Köstlichkeit. Um allein das Beäugen dieser Geschehnisse auszuhalten, müsse man sich einhüllen: Self-care diktieren die heutigen Zweige der sogenannten Persönlichkeitsentwicklung, damit das Unternehmen namens Individuum nicht zerbricht.

In unserem Bereich erleben wir diese Spannung inzwischen täglich: Entrechtung und Gewalt gegen Geflüchtete werden zunehmend mit dem Argument gerechtfertigt, man müsse sich „zwischen Menschlichkeit und Machbarkeit“ entscheiden. Man sei zwar traurig, aber was solle man machen – so sei die Welt nun einmal. (Über Feindschaft, ob im Schafs- oder Wolfspelz, brauchen wir hier nicht zu reden: Feinde tun feindliche Dinge.) Unter diesem Diskurs bleibt das enorme Leid nicht nur unsichtbar, es wird auch systematisch von lösungsorientierten Ansätzen ferngehalten – gepanzert mit hartnäckiger Ignoranz und einer Kulturalisierung, die an koloniale Ansprüche auf Deutungshoheit erinnert.

Dabei ist eine faire Kontextualisierung von Fluchtmigration Voraussetzung für eine Debatte, die zu wirklichen Lösungen führt. Diese Debatte muss auch den Anteil Deutschlands an den Bedingungen, die dazu führen, dass immer mehr Menschen zu Geflüchteten werden, und die daraus resultierende Verantwortung einschließen. Das Fehlen einer solchen Kontextualisierung macht den herrschenden Fluchtdiskurs nicht nur zum bloßen Gerede, sondern schafft auch Raum für nationalistische/rassistische Phantasien – gerade die Leugnung von Verantwortung wird zum Banner neofaschistischer Realitätsverweigerung. Dabei wären die Geflüchteten nicht die einzige Gruppe, der eine Diskussion mit grundsätzlichen Lösungsversprechen gut täte: Es liegt im Interesse aller, die sich um diese Welt sorgen, die zu einem Hochgeschwindigkeitszug mit defekter Bremse gemacht wurde, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Frieden, Verteilungsgerechtigkeit und Emanzipation in den Blick zu nehmen.

Die beschworene Ausweglosigkeit bleibt hier eine Farce – denn für jedes menschengemachte Problem gäbe es eine menschliche Lösung. Das gilt für die Fluchtmigration genauso wie für die Klimakatastrophe. Diese Welt ist nicht unser Schicksal.

Genau auf dieser Grundlage ruft die Gruppe „Debt for Climate“ in dieser Ausgabe dazu auf, sich zusammenzuschließen: „Um dem Faschismus wirksam zu begegnen und sowohl den rassistischen Normalzustand als auch die immer weiter eskalierende Klimakrise zu durchbrechen, müssen wir versuchen, unsere Kämpfe zusammenzuführen“.

Denn, wie der Verein „Women in Exile“ in seinem Beitrag betont: „Es sind vor allem die politischen Umstände, die die notwendigen Veränderungen verhindern, um soziale Gerechtigkeit für geflüchtete Frauen* zu erreichen“. Diese politischen Umstände gehen uns alle an.

Leider werden wir “die Straßen nicht fragen können, wo sie enden, bevor wir sie nehmen”, wie es sich ein Geflüchteter in Bosnien wünscht, der unterwegs mit Laura Kaiser über seine Erfahrungen und Gefühle sprach, die in dieser Ausgabe von den Außengrenzen der EU berichtet. Um genau zu wissen, wohin der Weg führt, müssen wir ihn gehen.

Die Bemühungen um die Selbstorganisation von Geflüchteten, die das Titelthema dieser Ausgabe bilden, sind Teil dieses gemeinsamen Weges. Denn, wie der Diskussionsbeitrag „Flüchtlinge, vereinigt euch!“ betont: „Selbst wenn der Flüchtling ein fassbares Subjekt wäre, könnte er sich niemals allein gegen die Angriffe auf sich verteidigen, geschweige denn sie überwinden.”

Wir schließen uns dem Traum von Vive und ihrer Mutter an, den sie in dieser Ausgabe beschreibt – dem Traum “von einem gemeinsamen Nenner, der allen eine Moral verspricht, und von reifen Honigmelonen, die für alle einladend duften”.

In dieser Ausgabe behandeln wir weitere sehr wichtige Themen wie die Unterbringung von Geflüchteten (Hans Eylert und eine Gruppe von Sozialarbeiter*innen aus Leipzig), die Situation von Geflüchteten aus Venezuela (Sebastian Lupke), das Chancenaufenthaltsrecht (Kristian Garthus-Niegel), die verheerende Situation im bosnischen Bihac (Masa Nazzal) oder die bürokratischen Hürden vor der Integration (Dave Schmidtke). Zudem berichten Joshua Gabriel Bermejo Farias und Mehmet Yılmaz von ihrer Ankunft in den Asylunterkünften in Deutschland.

Unsere Hoffnung ist, dass Querfeld all jenen als Aufrüstung dient, die sich unermüdlich für eine gerechte und friedliche Welt für alle einsetzen.

Viel Spaß beim Lesen!

* Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrates sowie Redaktion von „Querfeld“

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