Newsletter 03/25: Hätten wir eine Stimme…

Tammam Azzam

Dresden, 04.03.2025

Liebe Leser:innen,

mehr Abschottung, härtere Migrationspolitik, Kürzungen im Sozialbereich zugunsten der Aufrüstung… Mehr als die Hälfte der Wähler:innen hat bei der Bundestagswahl für eine Politik in diese Richtung gestimmt. Das muss man erst feststellen, bevor man Hoffnung schöpft. Die Lage ist schon lange ernst und wird immer ernster – nicht nur für uns Geflüchtete.

Wir, die Geflüchteten in diesem Land, sind (wie viele andere Migrant:innen) bis auf wenige Ausnahmen nicht wahlberechtigt. Rund 10 Millionen Menschen, 14 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, leben hier, arbeiten hier, sind von allen Prozessen hier betroffen, können aber nicht mitbestimmen, in welche Richtung sich die Politik entwickeln soll. Ihre Stimmen werden kaum gehört — und wenn doch, dann oft verzerrt oder unter Rechtfertigungsdruck. Das hat weitreichende Folgen und ist Teil der gesellschaftlichen Abschottung.

Hätten wir eine Stimme, könnten wir erzählen, wie die europäische und deutsche Politik an den immer weiter verschobenen Grenzen Massengräber schafft.

Hätten wir eine Stimme, hätten wir darüber gesprochen, was deutsche Waffen in unseren Ländern bedeuten, was Krieg bedeutet, was er mit einer Gesellschaft macht und warum eine Gesellschaft rechtzeitig eingreifen muss, um Krieg zu verhindern.

Hätten wir eine Stimme, hätten alle lauter gehört, was die imperiale Lebensweise und eine immer hemmungslosere Konsumgesellschaft in den Peripherien anrichten, welche konkreten Folgen die Ausbeutung von Natur und Menschen im Alltag hat.

Hätten wir eine Stimme, hätten wir davor gewarnt, dass die Polarisierung letztlich nur denen nützt, die auf die Resignation der demokratischen Kräfte setzen, um ihre Macht zu erhalten und auszubauen.

Hätten wir eine Stimme, wäre es klarer, dass die Feindseligkeit uns gegenüber statt der Verhältnisse, die uns zur Flucht zwingen, die Verrohung der Gesellschaft vorantreibt und dass Abschottung nur zu mehr Repression für alle führen kann.

Hätten wir eine Stimme, wären wir vielleicht alle ein wenig mehr in der Lage, uns auf Augenhöhe zu begegnen, wenn nötig zu streiten, um am Ende zu Lösungen zu kommen, die eine breitere Perspektive berücksichtigen.

Doch wir haben kaum eine Stimme und müssen damit leben, was die Gesellschaft über uns entscheidet – und wo die demokratische Teilhabe aller nicht stattfindet, konzentriert sich früher oder später die Herrschaft einiger weniger.

Hoffnung besteht darin, einen gemeinsamen Konjunktiv zu finden, mit dem wir über uns alle sprechen können. In welchem Land, in welcher Welt würden wir alle gerne leben? Dazu müssen wir uns zusammenfinden, bevor die gesellschaftlichen Risse noch tiefer werden.


Berichte aus dem Verein

Frohes Ramadan!

Wir wünschen allen muslimischen Leser:innen, Klient:innen, Mitarbeiter:innen und Freund:innen einen gesegneten Ramadan und anschließend ein frohes Fest.


Aufenthaltsrechtliche Hinweise für Drittstaatsangehörige aus der Ukraine

Der vorübergehende Schutz nach § 24 AufenthG für Geflüchtete aus der Ukraine wurde bis zum 4. März 2026 verlängert. Für viele Drittstaatsangehörige wurde er NICHT verlängert. Zum Beispiel, wenn sie in der Ukraine nur eine befristete Aufenthaltserlaubnis hatten. Es gilt: So schnell wie möglich nach Alternativen suchen, um in Deutschland bleiben zu können. Ausbildung oder Arbeit, aber auch andere Gründe können helfen, den Aufenthalt in Deutschland zu sichern. Eventuell kann ein Asylantrag gestellt werden. Lasst euch beraten!

Unser Projekt “Meine Rechte. Meine Perspektiven” des Sächsischen Flüchtlingsrates e.V. bietet Beratung an. Die Kontaktdaten der Beratungsteams sind auf unserer Webseite zu finden.


Querfeld #7: Insgesamt… Nicht besorgniserregend?

In einer Serie stellen wir die Texte der 7. Ausgabe unseres Jahresmagazins Querfeld vor.

Der erste Text ist die Rezension von Hans Eylert zur Studie „Heim-TÜV-IV“ des Sächsischen Ausländerbeauftragten, die die Unterbringungssituation in sächsischen Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende evaluiert.

Hier.


Querfeld #7: Unsichtbar sichtbar

Masa Nazzal war in Bosnien, um sich mit den Menschen auf der Flucht zu solidarisieren. In der Stadt Bihac fiel ihr besonders die Spaltung auf. Sie erzählt von ihren Beobachtungen und Gesprächen – von der Realität der Menschen auf der Flucht.

Hier.


Sammelabschiebung nach Pakistan trotz dokumentierter Bedrohungslage

Am 25. Februar wurden mehr als 43 pakistanische Asylsuchende, darunter mindestens sieben Mitglieder einer verfolgten religiösen Minderheit, mit einem Charterflug von Frankfurt a.M. nach Islamabad abgeschoben. Betroffenen zufolge befanden sich unter den Abgeschobenen auch Frauen, Jugendliche und Menschen mit Erkrankungen.

Bericht.


Bundespolizei stellt rechtswidrige Gebührenbescheide aus – Willkürliche Kriminalisierung von Geflüchteten darf keine Praxis werden

Der Sächsische Flüchtlingsrat verurteilt das rechtswidrige und diskriminierende Vorgehen der Bundespolizei, die einem Geflüchteten zu Unrecht Gebühren für erkennungsdienstliche Maßnahmen und Dolmetscherkosten in Rechnung stellte. Begründet wurde das Vorgehen mit der Mutmaßung, dass der Betroffene in naher Zukunft erneut eine Straftat begehen könnte.

Pressemitteilung.


Zwangsverpartnerung im AsylbLG

Wir stellen euch ein mehrsprachiges Infoschreiben zur sogenannten „Zwangsverpartnerung“ im AsylbLG von alleinerziehenden / alleinstehenden Personen, die in Sammelunterkünften untergebracht sind, zur Verfügung. Die Flyer beinhaltet ein Muster für einen Überprüfungsantrag und Widerspruch. Der Flyer kann selbstständig ausgedruckt und ausgelegt werden. Die Materialien sind zusammen mit Rechtsanwalt Raik Höfler aus unserem Fachbeirat entwickelt worden.

Infoschreiben.


Wie Sachsen die Kosten für Asylbewerber senken will

“Bisher haben die Erstaufnahmeeinrichtungen Busse oder Taxis zu den Ämtern bezahlt. Wegen der angespannten Haushaltslage sind die Bewohner nun selbst für ihre Fahrten zuständig.” Wir sprachen mit der Sächsischen Zeitung.

Bericht.


Rede bei der Gedenkveranstaltung zum rassistischen Anschlag in Hanau

Der Anschlag wurde durch eine “Kette des Versagens” ermöglicht, zu denen auch das gehört, was uns zum heutigen Stand der Entrechtung und der Zunahme rassistischer Übergriffe führt: Eine Gesellschaft, in der Rassismus zum Kern der Lebensweise gehört und in der die Politik immer wieder auf rassistische Entmenschlichung zurückgreift, um das eigene Unvermögen zu kaschieren. Eine Gesellschaft, in der trotz aller Bemühungen um eine Migrationsgesellschaft nach wie vor tiefe Ungleichheiten herrschen. Eine Gesellschaft, der eingeredet wird, sie könne sich schützen, indem sie die Mauern hochzieht und das “externalisierte Böse” draußen hält. Eine Gesellschaft, in der solidarische Lösungen und antirassistisches Engagement zunehmend unter Beschuss geraten.

Auszüge aus unserer Rede in Leipzig.


Veranstaltungshinweise

Ausstellung in Dresden: “Es ist nicht leise in meinem Kopf”

Mehr als 120 Millionen Menschen sind weltweit aktuell auf der Flucht – vertrieben von Krieg, Umweltkatastrophen oder politischen Unruhen. Seit Jahren wird auch in Deutschland intensiv und oft polemisch über Flucht, Migration und Asyl diskutiert. Die Geschichten der Geflüchteten selbst werden dabei zumeist nicht erzählt.

Ein Unterstützerkreis in Schwarzenberg wollte das ändern und schrieb die Lebenswege von Menschen auf, die auf unterschiedlichsten Wegen ins Erzgebirge gekommen sind. In der Fotoausstellung werden 35 Personen aus verschiedenen Ländern vorgestellt und ihre komplizierten Wege nach der Ankunft in Deutschland geschildert. Die Tafeln erzählen Geschichten von Verzweiflung und Ausgrenzung, aber auch neuer Hoffnung und Hilfsbereitschaft. Ebenso vielfältig waren die Reaktionen auf die Fotoausstellung, die nach Stationen in Meißen, Dresden und Ulm nun in Chemnitz gezeigt wird.

WANN: 03-21. März 2025, Montag-Freitag 10:00 bis 14:00 Uhr

WO: OWYO Campus (Hermann-Mende-Str. 1 01099 Dresden)


Widerworte zur Asylrechtsverschärfung und Anti-Migrationsdebatte

Fast alle Parteien nehmen an einem Überbietungswettbewerb in Sachen Asylrechtsverschärfung teil. Die AfD gibt den menschenverachtenden Ton vor und der gemeine Diskurs folgt. Dass die rechtspopulistischen Forderungen hier ebenso wie in vielen anderen Ländern dabei oftmals gegen geltendes europäisches oder Völkerrecht verstoßen, wird stillschweigend abgetan. In Italien etwa wird zivile Seenotrettung immer umfangreicher kriminalisiert, unter anderem durch das im Oktober 2024 verabschiedete Flussi Dekret der rechten Meloni-Regierung.

Es ist dringend an der Zeit, diesen Teufelskreis rassistischer Migrationsdebatten zu durchbrechen, und den Blick darauf zu lenken, dass Flucht auch als widerständige Praxis und Migration als solidarisches Miteinander stattfindet. Denn dieser wirkmächtige und tagtägliche Teil der Realität wird von all den Lautsprecher*innen der Remigrationsphantasien negiert. Flucht- und Migrationsbewegungen trotzen der Gewalt und tragen ein utopisches Versprechen mit sich: eine zukünftige Welt ohne Grenzen. Die Beteiligten auf dem Podium zeigen in ihrer Parxis, wie es gehen könnte und sollte.

  • Theresa Kühnert arbeitet im Flugzeug Department von Sea-Watch. Zusammen mit der Schweizer Organisation Humanitarian Pilots Initiative (HPI) betreibt Sea-Watch zwei Überwachungsflugzeuge, die von Lampedusa aus im zentralen Mittelmeer patrouillieren. So können die täglichen Menschenrechtsverletzungen beobachtet, dokumentiert und veröffentlicht werden. Allein in dieser Region ertranken in den letzten 10 Jahren 23.407 Menschen.
  • Osman Oğuz arbeitet in der Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrats e.V. (SFR). Dieser Verein setzt sich seit seiner Gründung 1991 für die Interessen und Rechte von Geflüchteten in Sachsen ein und berät sie zu Fragen des Asyl- und Aufenthaltsrechts und der Arbeitsmarktintegration. Mit seiner Öffentlichkeitsarbeit dokumentiert, veröffentlicht und kritisiert der SFR menschenrechtliche Missstände im Bereich Asyl und Migration.
  • Johannes Siegmund unterrichtet an der Universität Wien und ist Trainer bei ZARA (Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit). Er forscht er zu Solidarität und Rassismus in der Klimakrise. Seine letzte Publikation war „Tausend Archen. Flucht als politische Handlung“.
  • Der deutsch-marokkanische Journalist Mohamed Amjahid moderiert die Podiumsdiskussion.

WANN: 27. März 2025, 15:00-16:00 Uhr

WO: Leipziger Buchmesse, Forum Sachbuch Halle 5 (Halle 5, Stand E700)

Lesung und Gespräch: “Wovor soll ich mich fürchten?”

Die Literatur der Roma und Sinti ist ein lebendiger Ausdruck von Geschichte, Widerstand und Identität – doch im deutschsprachigen Raum bleibt sie weitgehend unbekannt. Die Werke von Roma- und Sinti-Autor*innen bewahren Erinnerungen, brechen mit Vorurteilen und erzählen Geschichten, die sonst oft ungehört bleiben. Sie sind essenziell für das kulturelle Gedächtnis Europas und ein wichtiger Beitrag zur Literaturgeschichte. Unter dem Titel „Wovor soll ich mich fürchten?“ (Ceija Stojka) begeben wir uns auf eine literarische Reise durch die letzten 100 Jahre und entdecken die Vielfalt und Kraft der Literatur der europäischen Rom*nja und Sinti*zze.

Mehr Infos.

WANN: 21. März 2025, 18.00 – 20.00 Uhr

WO: Informations- und Kulturzentrum der Roma und Sinti in Sachsen (IKS), Karl-Liebknecht-Straße 54 / Südplatz, 04275 Leipzig



Drei Stimmen aus der Presse

  • Im Stammtischmodus (Mario Neumann, medico-Rundschreiben)
    Während im Dezember 2024 in Syrien das Assad-Regime gestürzt und Gefängnisse geöffnet wurden, begann in Deutschland die heiße Phase des Wahlkampfes. Letztlich war er nicht mehr als eine migrationsfeindliche Kakophonie.
  • Menschen sind keine Naturkatastrophe (Autor:innenkollektiv, Süddeutsche Zeitung)
    Der Begriff „Zustrombegrenzungsgesetz“ beziehungsweise sein geistiges wie politisches Konzept hat in einem demokratischen Diskurs über die dringenden Fragen der Migration nichts verloren.
  • Von der Pride Parade zur Transphobie: Der krasse Wandel von Mark Zuckerberg und Meta (Johana Bhuiyan & Dara Kerr, The Guardian)
    Links zu vielen der öffentlichen Diversitätsberichte des Unternehmens führen heute zu leeren Internetseiten mit der Botschaft: „Dieser Inhalt steht nicht mehr zur Verfügung.“
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