Newsletter (07/25): Hamid

Dresden, 01.07.2025

Liebe Leser:innen,

diesen Monat erzählen wir von einem Menschen, dessen Leben maßgeblich von den aktuellen Verschärfungen in puncto Entrechtung von Geflüchteten betroffen ist. Er als konkreter Mensch kommt dabei kaum vor, und wenn, dann nur, um sich für das, was über ihn gesagt wird, zu rechtfertigen. Ihm werden Eigenschaften, meist bösartige, zugeschrieben, um die eigene Abschottung zu rechtfertigen. Viele autoritäre Maßnahmen werden über seine Existenz legitimiert – er wird leichtfertig eingeordnet, um dann leicht ein- oder ausgesperrt werden zu können. Gerät ein Politiker in Schwierigkeiten, greift er ihn an, um sich rauszuholen und zu erholen von schwierigen Fragen. Ein Geist sozusagen, der herumirrt – nicht nur auf den Straßen der Städte, sondern auch in jeglichen Debatten über Deutschland und die Welt.

Sein Name ist, sagen wir, Hamid. Mit seinem richtigen Namen darf er nicht auffallen, zu gefährlich wäre das. Ein 17-jähriger Geflüchteter aus Syrien, seit etwa zwei Jahren in Deutschland. Aus seinem schmalen Körper und seinem von Wunden gezeichneten Gesicht schauen zwei schüchterne, müde Augen heraus, die sich nicht mit anderen Augen treffen wollen. Wir begegnen ihm im Wochenendtumult einer sächsischen Großstadt. Stundenlang läuft er allein herum, nähert sich hier und da Menschengruppen und bekommt manchmal etwas zu essen oder eine Kippe. Er beharrt auf nichts, wird nirgendwo laut oder auffällig und bleibt nirgends länger als ein paar Minuten. Verloren wirkt er.

Hamid hat uns erzählt, dass er im Alter von drei Jahren zusammen mit seiner Familie aus Idlib in die Türkei gelangt ist. Sie sind in Bayrampaşa in Istanbul gelandet. Hier gehören Hunderttausende Geflüchtete, meistens aus Syrien, mittlerweile zum Stadtbild. Herausstechend sind jedoch weder die kulturelle noch die kulinarische Bereicherung, die sie mitgebracht haben, sondern die kaum auszuhaltenden Szenen der Armut und der Zwangsarbeit. In den zahlreichen Textilateliers arbeiten Geflüchtete für einen deutlich niedrigeren Lohn als die Arbeiter:innen aus der Türkei. Die Arbeitszeit ist “flexibel”: Täglich 12 Stunden sind hier die Norm. Lange Jahre gehörten viele dieser Unternehmer zu den “Refugees-Welcome”-Kreisen der Erdoğan-Regierung, da sie sich regelrecht darauf freuten, dass ihr Geschäft durch noch mehr und noch billigere Arbeitskräfte florierte. Menschen haben sie in Geflüchteten aber nicht gesehen: Sie waren Arbeiter:innen, denen man alles zumuten kann.

Hamid hat Türkisch gelernt, da er ja in der Türkei aufgewachsen ist – jedoch nicht in der Schule, sondern in den Textilateliers. Im Land arbeiten 4,4 Prozent aller Kinder, und die Flucht von Millionen Menschen hat dieses üble Geschäft noch weiter befeuert. Als billigste Arbeitskräfte produzieren geflüchtete Kinder beispielsweise Kleidung für Adidas in den unkontrollierten, unorganisierten und häufig auch sonnenlosen Ateliers. “Ich war noch nie in einer Schule”, sagt Hamid etwas verlegen und fügt hinzu: “Ich habe gearbeitet – wir alle haben gearbeitet.”

Seine Familie hat in der Türkei gemeinsam gearbeitet, um ihm schließlich den Weg nach Deutschland zu ermöglichen. Hier soll er für sich und seine Familie eine neue Perspektive aufbauen. Nun trägt er also die Verantwortung, etwas auf die Beine zu stellen – vor allem aber sich selbst.

Es gibt viele Hamids. Grenzkontrollen, Aussetzung des Familiennachzugs, Bezahlkarte, Abschiebung… Mit der aktuellen Debatte spricht man ihnen nicht nur die Berechtigung ihrer Flucht ab, sondern auch jegliches Verständnis für ihre Situation, die durchaus vieles mit Deutschland zu tun hat. Wenn sich Hamid weder integrieren noch in einem demokratischen Rahmen für seine Interessen politisieren kann, wird er zum Spielball dieser oder jener Machtblöcke. Sowohl seine berechtigte Wut als auch seine verständliche Handlungsunfähigkeit bieten denen Möglichkeiten, die nichts außer ihrer eigenen Herrschaft ausbauen und schützen wollen.

Ähnliche Geschichten haben zwar viele Gesichter, aber eines gilt immer: Flucht wird durch Ungleichheiten, Kriege und Katastrophen verursacht. Wer nicht diese Ursachen, sondern die Geflüchteten bekämpft, führt uns alle in eine immer unsicherere und brutalere Welt. Diese Spirale können nur diejenigen durchbrechen, die ein Interesse an einer ähnlichen Veränderung haben, die Hamid zugute käme – und Hamid kann nur mithilfe eines solchen Einander-Verstehens von dieser Welt geheilt werden.

Hamid wird, wenn auch als Geist, alle verfolgen, solange eine konkrete Perspektive für eine solche Veränderung ausbleibt.

In der Türkei arbeiten 4,4 Prozent aller Kinder, und die Flucht von Millionen Menschen hat dieses üble Geschäft noch weiter befeuert. Als billigste Arbeitskräfte produzieren geflüchtete Kinder beispielsweise Kleidung für Adidas in den unkontrollierten, unorganisierten und häufig auch sonnenlosen Ateliers.


Berichte aus dem Verein

„Alles geben“ ist nie genug – Vater aus Gaza darf seine Familie nicht wiedersehen

Selektiver Humanismus bestimmt hierzulande die Debatten um den Nahostkonflikt. Dieser erscheint mehr als deplatziert, während das reale Leid zehntausender Menschen in Palästina täglich steigt und selbst Essensausgaben zu tödlichen Fallen werden. Abdallah Alreqeb, 34 Jahre alt, lebt und arbeitet in Dresden. Verzweifelt versucht er, seine Familie aus der katastrophalen Lage im Gazastreifen zu befreien. Doch die Bundesregierung verhindert dies durch die Aussetzung des Familiennachzugs.

Bericht.


Bundestag beschließt Aussetzung des Familiennachzugs

Der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz wird ausgesetzt: Eine Mehrheit im Bundestag hat dem von der Union-SPD-Regierung eingebrachten Gesetz zugestimmt. Die Aussetzung des Familiennachzugs bedeutet – neben aller Grausamkeit – auch, dass Angehörige zu illegalen Wegen gezwungen werden. Vor allem Union und SPD haben sich somit für die Folgen dieses Beschlusses verantwortlich gemacht.


Wie es um die psychologische Versorgung von Geflüchteten steht

“Einen Therapieplatz bekommen Geflüchtete eher selten: Solange sie Asylbewerberleistungen erhalten, geht dies nur in Ausnahmefällen. Selbst wenn sie krankenversichert sind, ist es schwer, einen Therapieplatz zu finden: Denn es gibt lange Wartezeiten. Die Finanzierung einer Übersetzung scheitert oft an bürokratischen Hürden, zudem sind wenige Therapeut*innen auf die Erfahrungen von Kriegsflüchtlingen spezialisiert oder für den Umgang mit Rassismus sensibilisiert. (…)

Die Psychosozialen Zentren werden [in vielen Bundesländeden] über Projektgelder, Geld von Bund und manchen Bundesländern sowie Spenden finanziert. Rund 6 Prozent kommen von Trägern wie den Krankenkassen, etwa über die Kostenübernahme einer Therapie. Die Bundesmittel wurden mit den Haushaltskürzungen 2025 von rund 13 Millionen auf 11 Millionen Euro gesenkt. Laut BAfF wären 27 Millionen Euro nötig, um die Arbeit der Zentren aktuell fortführen zu können. Aufgrund der schwankenden Mittel ist es schwer, eine dauerhafte Versorgung sicherzustellen.”

Bericht von “Mediendienst Integration”


Familie bei Abschiebung brutal getrennt: Behörden schieben Mutter und Kinder trotz Erkrankung und laufender medizinischer Behandlung ab

Mit Entsetzen verurteilen wir die Abschiebung von Familie C. aus Dresden am vergangenen Donnerstag nach Georgien. Während der Familienvater schwer krank auf der Intensivstation lag, setzten die Behörden die Abschiebung der Mutter und beider Kinder durch – entgegen medizinischer Empfehlungen für den älteren Sohn, der ebenfalls im Uniklinikum ambulant behandelt wurde.

Pressemitteilung.


Innenminister*innenkonferenz: Mit Anlauf nach rechts

Weltweit sind mit über 122 Millionen mehr Menschen auf der Flucht als je zuvor. Doch die Innenminister*innen aus Bund und Ländern treiben die Abschottung Europas und die systematische Entrechtung von Geflüchteten weiter voran. Gerichtliche Entscheidungen zur Rechtswidrigkeit von Zurückweisungen an den Grenzen oder von Leistungsstreichungen werden vorsätzlich missachtet, der Rechtsstaat wird kalkuliert demontiert. Gleichzeitig ist die Zivilgesellschaft, u.a. Menschen, die Schutzsuchende unterstützen, unterschiedlichen Angriffen von politischer Seite ausgesetzt.

Gemeinsame Pressemitteilung.


Redebeitrag: “Euer Krieg, unser Leben”

Während der Innenministerkonferenz in Bremen versammelten sich mehr als 1.000 Menschen zu einer Demonstration von “Jugendlichen ohne Grenzen”, um gegen Maßnahmen gegenüber Geflüchteten zu protestieren. Die Demonstration zeichnete sich durch eine besonders kraftvolle Stimmung aus. Im Vorfeld des Weltflüchtlingstags am 20. Juni dokumentieren wir den Redebeitrag von Osman Oğuz. Darin unternimmt er einen Versuch zur politischen Selbstdefinition von Geflüchteten und betont die Notwendigkeit verbindender Analysen und Räume zur Bekämpfung von Fluchtursachen.

Blogbeitrag.


Familie Pham/Nguyen erhielt die Zusage für einen Aufenthaltstitel!

Nachdem der ehemalige Vertragsarbeiter Pham Phi Son nach 36 Jahren mit seiner Familie (seine Tochter Emilia ist hier geboren) abgeschoben werden sollte, erhielt diese letzte Woche eine erlösende Nachricht: Sie bekommen einen Aufenthaltstitel! Gemeinsam mit der Familie, Anwält:innen und Unterstützer:innen haben wir aktiv an der Kampagne für ein Bleiberecht der Familie gearbeitet und freuen uns sehr über diesen positiven Ausgang.

Bericht.


Ende von unserem Projekt “Save Me” in Chemnitz

Wer in Sachsen neu ankommt, braucht mehr als nur Obdach und einen Sprachkurs. Zwischen dem Kennen von Paragrafen und dem wirklichen Ankommen liegen Welten. Natürlich sind das Aufenthaltsrecht, der Zugang zu Sprachkursen und eine eigene Wohnung zentral. Aber jeder Gang zur Behörde oder Schritt ins Berufsleben fällt leichter, wenn man sich auskennt oder Menschen mit Erfahrung an der Seite hat. Neben bestehenden Communities leben viele Geflüchtete zunächst isoliert und suchen gezielt nach Kontakten, um schneller Anschluss zu finden.

“Save Me war ein etabliertes Patenschaftsprogramm, das über ein Jahrzehnt in der Stadt Chemnitz einen Unterschied gemacht hat. Denn es hat vielen geflüchteten Menschen konkret geholfen, sich in der Chemnitzer Stadtgesellschaft zurechtzufinden”, fasst Runa Mostofi, langjährige Koordinatorin des Projekts, zusammen.

Das Patenschaftsprojekt hatte genau hier angesetzt: Es hat Begegnungen geschaffen, die im Alltag selten entstehen. Viele Pat*innen haben Geflüchtete bei Behördengängen begleitet, beim Deutschlernen unterstützt oder einfach Zeit miteinander verbracht. So entstanden gegenseitiges Lernen, Verständnis und oft auch Freundschaften. “Etwas, das sich beide Seiten noch heute wünschen, da dieser Kontakt nicht ‘einfach so’ entsteht, ganz besonders für Familien”, sagt Mostofi.


Keine Abschiebung aus stationären und weiteren medizinischen Einrichtungen

Pena.ger, die bundesweite Online-Beratungsstelle für Geflüchtete und der Sächsische Flüchtlingsrat kritisieren zutiefst, dass medizinische Einrichtungen zunehmend zu Schauplätzen staatlicher Abschiebungspraxis werden. Krankenhäuser, Gesundheitsämter und andere medizinische Räume dürfen niemals Teil einer Abschiebungsmaschinerie sein. Wer krank ist, braucht Schutz und nicht Angst vor staatlichem Zugriff am Krankenbett! Wir fordern alle verbleibenden 12 Bundesländer eindringlich auf, dem Beschluss des 129. Deutschen Ärztetages zu folgen und durch klare Runderlasse Abschiebungen aus medizinischen Einrichtungen konsequent zu unterbinden. Gesundheit ist ein Menschenrecht!

Pressemitteilung.


Veranstaltungshinweise

Freund:innen unseres Vereins kommen zusammen!

Am 4. März hatten wir unseren geschätzten Mitstreiter Volker Gerloff für unsere erste #SFRfriends-Veranstaltung zu Gast. Mit ihm haben wir uns dem oft nur randständig behandelten Thema des Leistungszugangs geflüchteter Menschen mit Behinderung gewidmet, über ihre Rechte auf Gesundheits- und Pflegeleistungen gesprochen und wie wir dabei unterstützen können, diese durchzusetzen.

Und die nächste SFRfriends-Veranstaltung ist schon in Planung: Robert Nestler von „Equal Rights Beyond Borders“ wird einen Input über das Thema „Kriminalisierung in der Geflüchteten-Unterstützung“ mitbringen und u. a. mit uns einen Blick auf die Situation in weiteren EU-Staaten werfen.

Alle Freund*innen des SFR sind herzlich eingeladen!

WANN: am 5. August 2025, um 17:00 Uhr
WO: Digital – Link kommt nach der Anmeldung
ANMELDUNG: Bei geschaeftsstelle@sfrev.de bis zum 4. August


Bautzen: Raus aus der Duldung – Wege ins Bleiberecht

Ihr Asylantrag wurde abgelehnt und Sie fragen sich, wie es jetzt weiter geht oder Sie besitzen bereits eine Duldung und fragen sich, welche Möglichkeiten Sie nun haben?

Wir wollen darüber informieren, was eine Duldung ist und welche Wege aus der Duldung zu einer Aufenthaltserlaubnis führen können.

Die Schulung richtet sich insbesondere an Geflüchtete.

Die Teilnahme ist kostenlos.

WANN: 10. Juli 2025 um 13:00 – 15:00 Uhr
WO: Willkommen in Bautzen / Schülerstr. 6, 02525 Bautzen


Bad Düben: Aktuelle Informationen für Menschen aus der Ukraine

Sie sind aus der Ukraine geflüchtet, besitzen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG und möchten gerne wissen, wie es weitergeht und welche Möglichkeiten Sie nun haben? Kommen Sie gerne in unsere Schulung zur aktuellen Rechtslage für Menschen, die vom Krieg in der Ukraine geflohen sind.

Ende 2024 wurde entschieden: Die Aufenthaltserlaubnisse gem. § 24 AufenthG für Menschen aus der Ukraine gelten automatisch bis zum 4. März 2026 fort. Das betrifft jedoch die meisten Menschen ohne ukrainische Staatsangehörigkeit und ohne internationalen Schutzstatus bzw. ohne unbefristetes Aufenthaltsrecht in der Ukraine nicht.

Wir werden in der Schulung besprechen, ob und für wie lange Ihre Aufenthaltserlaubnis verlängert wird und welche weitere Aufenthaltserlaubnis Sie noch beantragen können.

Die Schulung richtet sich insbesondere an Geflüchtete. Die Teilnahme ist kostenlos. Keine Anmeldung notwendig.

Sprache der Veranstaltung: Deutsch

WANN: 18. Juli 2025 um 17:00 – 19:00 Uhr
WO: Gemeinschaftsgarten am Wasserturm / Wirtschaftsweg, 04849 Bad Düben


Bautzen: Behörden 1×1 für Geflüchtete

Die Integration in Deutschland ist ein Prozess, der verschiedene rechtliche und administrative Schritte erfordert. Besonders für Geflüchtete ist es wichtig, die Funktionsweise von Behörden zu verstehen und zu wissen, worauf geachtet werden muss. Aus diesem Grund bieten wir eine Schulung zum Thema „Behörden 1×1 für Geflüchtete“ an, die grundlegende Informationen und praktische Tipps vermittelt.

Die Schulung richtet sich insbesondere an Geflüchtete. Die Teilnahme ist kostenlos.

WANN: 31. Juli 2025 um 13:00 – 15:00 Uhr
WO: Willkommen in Bautzen / Schülerstr. 6, 02525 Bautzen



Drei Stimmen aus der Presse

  • Kriege gegen das Böse (von Jens Renner, analyse&kritik)
    Regime Change durch Kampfbomber? Eine Bilanz von drei Jahrzehnten westlicher »Militärinterventionen«
  • Maxim Billers Gaza-Witz: Beim Aushungern von Palästinensern hört die Meinung auf (Elsa Koester, Freitag)
    Die Zeit veröffentlicht eine Kolumne von Maxim Biller, die das Einsetzen von Hunger als Kriegswaffe rechtfertigt. Und lässt den Text wieder verschwinden. Ist das der Punkt, an dem das Leben von Palästinensern in Deutschland wieder zählt?
  • Dresden schließt mehrere Unterkünfte für Geflüchtete (Sächsische Zeitung)
    Niedrigere Zahlen von Asylsuchenden führen zum Aus für Containerstandorte in Dresden. Die Stadt sieht keinen Bedarf mehr für die Unterkünfte

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Bildquellen

  • mohammed-ibrahim-RFByqAGwhmI-unsplash: Mohammed Ibrahim/Unsplash
  • 20250422_091414: Illustration von Timo Horn