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„Die 40-jährige Mutter Joy Gardner erstickte 1993, nachdem die mit der Abschiebung beauftragten Polizisten die Jamaikanerin in ihrer Wohnung gefesselt und geknebelt hatten [so geschehen in Großbritannien, Anm. SFR]. Auf dem Rücken gefesselte Hände, Fesseln an den Füßen, Polizisten, die zusätzlich den Kopf nach unten hebeln oder massiven Druck auf den Brustkorb der Betroffenen ausüben – solche und ähnliche Maßnahmen führten wiederholt zum Tod bei Abschiebungen. Bei dem 27-jährigen Nigerianer Samson Chukwu, der 2001 in einem Schweizer Abschiebelager starb, ebenso wie beim 31-jährigen Kameruner Christian Ecole Ebune ein Jahr zuvor im Abfertigungsbereich des Budapester Flughafens. Beide hatten versucht, vor den Beamten zu fliehen. Der 27-jährige Palästinenser Khaled Abuzarifeh hatte seine erste Abschiebung verhindern können, weil er protestierte und der Pilot sich daraufhin weigerte mitzuwirken. Beim zweiten Versuch hatten Schweizer Beamte ihn an einen Rollstuhl gefesselt und ihm zusätzliche Beruhigungsmittel verabreicht. Im Fahrstuhl am Flughafen musste Abuzarifeh sich übergeben und erstickte am Erbrochenen.“ (Oulios 2015: 51f).
Gewalt und Abschiebungen gehen Hand in Hand. Unregelmäßige Berichterstattung über Einzelfälle empören, aber gehen schnell in der öffentlichen Wahrnehmung unter. Bloß sind das keine Einzelfälle. Abschiebungen sind Vollzugsmaßnahmen; Vollzug heißt, etwas muss gegen den Willen eines Menschen durchgeführt werden. Gegen den Willen von Menschen, die nicht zurück wollen. Die so sehr nicht zurück wollen, dass sie sich im Zweifelsfall das Leben nehmen. Der freie Autor Miltiadis Oulios führt Zahlen aus Großbritannien an. 57 von Abschiebung bedrohte Menschen haben sich allein in dem Land zwischen 1989 und 2006 das Leben genommen (vgl. ebd.). Die Statistiken deutscher Bundesländer, die nicht von allen deutschen Bundesländern mit Abschiebehaftanstalten geführt werden, offenbaren mindestens acht Suizidversuche und 17 Selbstverletzungen beziehungsweise entsprechende Versuche seit 2012 in den Gefängnissen (vgl. BT-Drs. 18/7196: 108ff).
Auch Sachsen hat im letzten Jahr 3.377 Menschen abgeschoben. Und auch in Sachsen blieb die Gewalt nicht aus. Der Sächsische Flüchtlingsrat e.V. hat das Jahr 2016 als unglaublich brutal wahrgenommen. Seine und die Dokumentation anderer Vereine von Grundrechtsverletzungen spiegelt das wider. Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen bemerkten, wie moralische und legale Grenzen Schritt für Schritt eingerissen wurden. Im unerbittlich schnellen Takt der Abschiebemaßnahmen wurden Familien getrennt, Schwangere und Kranke abgeschoben und Kinder in Handschellen gelegt. Unser Punkt ist: das sind keine Einzelfälle. Die Gewalt, die auch in der sächsischen Abschiebepraxis zum Ausdruck kommt, ist die politische Antwort auf die Frage, die Flucht und Migration aufwerfen. Abschiebungen, das Konzept der „Sicheren Herkunftsstaaten“ sowie die Auslagerung von EU-Grenzen sind alles Maßnahmen die die Sprache derer sprechen, die Menschen vom Fliehen abhalten wollen. Wir halten diese Antworten nicht für tragbar. Wir halten diese Antworten lediglich für Provisorien, die die Beantwortung dieser Frage nur aufschieben. Wir wissen, was diese Maßnahmen Menschen antun, jede*r weiß das. Es ist nur die Frage, ob der*die Einzelne hinsehen möchte, was da in den Herkunftsländern und auf den Fluchtrouten passiert. Und was immer wieder nachts in Sachsen passiert, wenn Menschen aus ihren Wohnungen geholt werden. Wir wollen das Hinsehen mit diesem Dossier ermöglichen, denn wir wollen die politische Frage von Flucht und Migration anders beantworten. Und weil die Frage so groß ist und sich aus ihr so viele weitere kleinere, dann aber viel komplexere und vielfältigere Fragen ergeben, wollen wir in diesem Online-Dossier offenen Menschen zeigen, was Abschiebung bedeutet. Wir wollen Abschiebungen problematisieren und Aufgeschlossenen das Recht auf Freizügigkeit und das Bleiberecht für Alle näherbringen. Wir wollen Menschen rechtliche Hinweise geben, wie sie bleiben können und bei wem sie Unterstützung erfahren können. Wir wollen einen Einblick geben in die Geschichten von Menschen, die Abschiebungen über sich ergehen lassen mussten. Wir wollen, dass Menschen darüber nachdenken, was auch in sächsischen Städten und Gemeinden im Jahr 2016 so viele Male den 3.377 Menschen, die hier lebten, passiert ist. Dass sich Menschen fragen, ob der Preis, der hier gezahlt wird, nicht doch zu hoch ist. Und sich auch die Frage stellen, wofür denn hier eigentlich ein Preis gezahlt wird? Für die Sicherheit oder gleich für die Nation? Und wo beginnt eigentlich das eine und endet das andere?
Die politische Rhetorik und auch die konkreten Maßnahmen in Gesetzgebung und eben der Vollzug dieser Gesetze – all das spricht momentan eine andere Sprache. Die Exekutivanordnungen von US-Präsident Donald Trump über die Asyl- und Migrationspolitik sind nur das prominenteste Beispiel. Es braucht aber auch andere Stimmen. Auch das kann in Sachsen möglich sein. Deswegen werden wir die Grundrechtsverletzungen im Jahr 2017 hier auf unserer Website öffentlich dokumentieren und kritisch begleiten. Wir rufen all jene, die unsere Position teilen, dazu auf, sich gegen Abschiebungen zu positionieren, an ihrer Problematisierung mitzuwirken und von Abschiebung Bedrohte mit allen Mitteln zu unterstützen. Wir wollen, dass das Recht auf Freizügigkeit Realität wird.