Sieben Monate nach der Machtergreifung der Taliban: „Afghanistan darf nicht vergessen werden!“

Neues Leben in Chemnitz, aber mit dem Kopf noch häufig in Afghanistan. Foto: privat

Mujibullah Parwani, arbeitete fast sechs Jahre in Afghanistan für die EU-Mission – EUPOL (European Union Police Mission in Afghanistan). Er war Koordinator für das Personal und in den politischen Beziehungen zwischen dem deutschen Generalkonsulat und lokalen Vertreter*innen im Norden Afghanistans aktiv. Als politischer Berater sowie Übersetzer, besaß er Kontakt zur dortigen Politik und Presse. Heute lebt er mit seiner Familie in Chemnitz und will den Menschen in Deutschland ein realistisches Bild über den Zustand Afghanistans geben.

Seine Arbeit war geprägt von Diplomatie: „Meiner Meinung nach war die Mission ein Erfolg, weil wir auch langfristige Projekte aufgebaut hatten. In Zusammenarbeit mit anderen Hilfsorganisationen konnten wir die Bedürfnisse der Bevölkerung in verschiedenen Teilen Nordafghanistans befriedigen, indem wir Infrastruktur; Schulprojekte; Zugang zu Trinkwasser und andere Einrichtungen für die lokale Versorgung geschaffen haben.“ Im Konsulat selbst und bei Begegnungen in den Gemeinden erhielt er viel positives Feedback für diese Arbeit. Dies war nur möglich, weil die Vertrauen der Menschen vor Ort. Ein Vertrauen, das nun nicht enttäuscht werden sollte, indem man die Menschen vergisst.

Die letzten Tage vor dem Kollaps

Zwischen 1996 und 2001, in der Zeit der ersten Diktatur der Taliban, erlebte Herr Parwani bereits ein dunkles Kapitel in der Geschichte Afghanistans. Es gab öffentliche Hinrichtungen, die Rechte von Frauen und Mädchen wurden mit den Füßen getreten und die Bevölkerung lebte in Angst. Für ihn schien es unvorstellbar, dass sich dies alles wiederholen würde. „Während die Taliban in den kleineren ländlichen Provinzen mit den Jahren erfolgreicher wurden, hatten wir nicht erwartet, dass sie die großen Städte wie Herat oder Kabul einnehmen könnten. Als sie dann doch die Macht über das gesamte Land übernahmen, wusste ich, dass ich mit meiner Familie direkt nach Kabul gehen musste. Eine andere Möglichkeit, als das Land mit dem Flugzeug zu verlassen, kam wegen meines beruflichen Hintergrunds nicht in Frage. Ich wäre zur Zielscheibe geworden, weil mein Gesicht zu oft in den afghanischen Medien auftauchte“, erklärt Parwani, dem es tatsächlich gelang, mit einem der letzten Bundeswehrflugzeuge evakuiert zu werden.

Doch die Reise dorthin wurde für ihn und seine Familie zur Tortur. Zum einen gefährdete ihn seine politische Arbeit, zum anderen drängten sich bereits Tausende anderer verzweifelter Menschen auf dem Flughafen von Kabul und blockierten den Zugang: „Nur mit Hilfe der deutschen Botschaft und ihrer Mitarbeiter konnten wir alle Kontrollpunkte mit einem Bus passieren und auf das Flughafengelände gebracht werden. Da auch viele Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Kabul mit uns reisten, war das Risiko für alle an Bord extrem hoch. Es war eine schreckliche Reise, die fast 24 Stunden dauerte. Alle im Bus, vor allem die Kinder, waren völlig verängstigt. Ständig schossen Taliban-Kämpfer in die Luft, um die Menschen zu vertreiben.“

Restart in Chemnitz

Inzwischen hat Herr Parwani eine Aufenthaltsgenehmigung und lebt in Chemnitz. Seine Kinder gehen zur Schule und lernen jeden Tag. Für ihn ist es dennoch schwierig, in der Pandemie in Sachsen wirklich anzukommen, da die meisten Sprachkurse in den letzten Monaten ausgefallen sind. Besonders schwierig ist es für ihn, die Katastrophe aus der Ferne mitzuerleben. „Ich kann nicht direkt vor Ort helfen, muss vieles verarbeiten und gleichzeitig fange ich gerade erst an, mir ein neues Leben aufzubauen. Aber ich versuche es und möchte den Menschen in Deutschland ein reales Bild von der Situation in Afghanistan vermitteln.“ Er beschreibt, dass neben der großen Hungersnot auch die Unterdrückung der Medien durch die Taliban dazu führt, dass nicht alle Informationen nach außen dringen: „Afghanistan darf nicht vergessen werden, die humanitäre Not wird immer größer. In meiner Rolle im Exil werde ich versuchen, als Stimme Afghanistans aufzuklären und zu vermitteln.“

Dort warten noch immer Tausende von Einheimischen auf ihre Evakuierung, während die Lage im Land immer dramatischer wird. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist vom Hungertod bedroht. Proteste und die Arbeit der freien Medien sind verboten. Viele Befürchtungen, wie sich Afghanistan unter den Taliban entwickeln würde, haben sich bestätigt. Die UNO meldete kürzlich die Hinrichtung von über 100 Personen, die zuvor als Ortskräfte oder für die afghanische Regierung als Sicherheitskräfte gearbeitet hatten.

Noch immer gilt #AfghanLivesMatter

Das Schicksal der Menschen in Afghanistan darf nicht in Vergessenheit geraten, dafür gibt es auch eine Verantwortung auf deutscher Seite. Zum einen gilt es, die notwendigen Evakuierungen schnellstmöglich durchzuführen, dafür existiert sogar eine rechtliche Verpflichtung. Zum anderen muss Schutzsuchenden, die bereits in Deutschland leben, eine langfristige Aufenthaltsperspektive gegeben werden. Außerdem wäre es notwendig, dass Sachsens Landesregierung ein Landesaufnahmeprogramm verabschiedet, um auch den Familienangehörigen der bereits Evakuierten eine Ausreise zu ermöglichen.

Denn die Aussichten im Land sind laut Parwani düster: „Alles, was die Taliban als inneren Fortschritt zu verkaufen versuchen, ist eine Show. Die radikale Denkweise der Taliban wird sich nicht ändern. Am Anfang wollten sie das Vertrauen und die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft gewinnen, um finanzielle Unterstützung zu erhalten. Jetzt sehen wir, dass sie Mullahs in hohe politische Ämter setzen, die absolut nicht in der Lage sind, das Land zu regieren.“

Über 23 Millionen Menschen im Land sind laut UN-Berichten aktuell von Hunger bedroht. Die Taliban-Regierung ist nicht in der Lage die Grundversorgung Afghanistans zu sichern. Foto: Wanman Uthmaniyyah
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