Menschen in Sammelunterkünften bilden keine „Schicksalsgemeinschaft“
Das sogenannte „Migrationspaket“ aus dem Jahr 2019 enthält einige unsinnige Regelungen. Einige davon sind möglicherweise gar verfassungswidrig. Zu dieser Auffassung kommen immer mehr Sozialgerichte, auch in Sachsen. Aktuell geltendes Recht sagt – wer in einer Sammelunterkunft lebt, befindet sich in einer „Schicksalsgemeinschaft“ und hat deswegen einen geringeren Leistungsanspruch. Zwei Entscheidungen aus Sachsen stellen gar eine Verfassungswidrigkeit der Regelung in Aussicht.
„Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Ein Satz, der zum geflügelten Wort wurde bei all denen, die Rechte geflüchteter Menschen verteidigen. Verfasst wurde er 2012 vom Bundesverfassungsgericht. Derzeit muss er ein Revival erleben. Einer erst kürzlich verabschiedeten Regelung aus dem „Migrationspaket“ des Jahres 2019 wird inzwischen von mehreren deutschen Sozialgerichten eine mögliche Verfassungswidrigkeit zugeschrieben. Auch das Dresdner Sozialgericht hat sich dieser Rechtsauffassung nach Leipzig, Landshut, Freiburg und Frankfurt angeschlossen und erteilt nicht nur dem Bautzener Landratsamt sondern auch den Jurist*innen in Bundesinnenministerium und Großer Koalition eine Abfuhr.
Gerichte stellen Bundesinnenministerium bloß
Herr S. aus dem Landkreis Bautzen erhält nun wieder 344 Euro im Monat nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. „Das bereits ist ein geringer Betrag.“ findet Angela Müller vom SFR. Doch das Landratsamt Bautzen wollte noch weniger zahlen, 310 Euro im November und Dezember 2019, 316 Euro ab Januar 2020. Möglich gemacht hat das eine Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes im Sommer 2019. Menschen, die in einer Sammelunterkunft untergebracht sind, sollen demnach zehn Prozent weniger Leistungen erhalten. „Regelbedarfsstufe 1 oder 2?“ ist die sozialrechtliche Frage, um die sich hier gestritten wird. Begründet wurde die Gesetzesverschärfung damit, dass die in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebrachten Menschen eine „Schicksalsgemeinschaft“ bilden würden. „Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden stärkt uns, weitere Menschen zu ihren Rechten zu beraten. Für uns liegt auf der Hand: hier wird ganz klar die Menschenwürde missachtet.“ kommentiert Müller. Ein weiterer Beschluss aus Leipzig mit selbem Tenor wird vermutlich zu einer gesamtsächsischen Rechtsprechung führen. Die Chance, den Rechtsverhalt für Sachsen zu klären besteht, der zuständige Landkreis hat Beschwerde beim Landessozialgericht gegen die Entscheidung aus Leipzig eingelegt.
Eine verrückte Konstruktion – „Schicksalsgemeinschaften“ in Sammelunterkünften
Was Kritiker*innen des „Migrationspakets“ bereits vorher mit menschlicher Logik argumentierten, bestätigen bereits bundesweit Gerichte. In Landshut drückt sich das so aus: „Deutlich wird, dass die Absenkung der Regelbedarfsstufe auf 90 % im Vergleich zu Alleinstehenden nach den Ermittlungen des Gesetzgebers das Zusammenleben, Partnerschaft und Wirtschaften aus einem Topf voraussetzt. Es erscheint ausgeschlossen, dass nichtverwandte Personen in einer Gemeinschaftsunterkunft regelmäßig und ohne Berücksichtigung des Einzelfalls die genannten drei Kriterien erfüllen.“ Offenbar für komplett verrückt hält das Landshuter Sozialgericht die bloße Annahme einer Schicksalsgemeinschaft in einer Gemeinschaftsunterkunft: „Auch hält das Gericht die sich aus der Gesetzesbegründung ergebende, weitere Annahme für fragwürdig, wonach sich die Leistungsberechtigten im Asylverfahren ungeachtet ihrer Herkunft „in derselben Lebenssituation“ befänden und eine Art „Schicksalsgemeinschaft“ bildeten. Denn ein gemeinsames Wirtschaften „aus einem Topf“ setzt stets entsprechende Absprachen zwischen den (Lebens-)Partnern und ein gefestigtes gegenseitiges Vertrauen voraus.“ Der Leipziger Rechtsanwalt Raik Höfler, der den Beschluss aus Leipzig vom Januar 2020 erwirkte, empfindet das Ganze eine reichlich blamable Angelegenheit, insbesondere für das Bundesinnenministerium. „In 2019 wurde Recht gegen Geflüchtete eilig dahingeschustert. Dabei wurden Grundsätze der Verfassung und ihrer Rechtsauslegung missachtet. Dies zeigt nun erste und notwendige Konsequenzen. Es ist gut, wenn den Preis nicht mehr allein Geflüchtete zahlen müssen sondern auch die Behörden, die mit Verfahren überzogen werden.“
Schnelle Verfassungsgerichtsentscheidung, weniger Verfahren
In Dresden wurde dem Eilantrag nun stattgegeben. Bis zum 30. April erhält Herr S. nun die ihm zustehenden Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz. In der Hauptsache wird das Gericht noch entscheiden. Angesprochen auf die Frage, wie viele Verfahren Müller nun erwarte, antwortet sie nüchtern: „Je schneller das Bundesverfassungsgericht die Regelung kassiert, desto weniger Verfahren wird es geben.“ Support auf Landesebene könnte dabei durch das Sozialministerium kommen. Auch auf Landesebene sieht man die restriktiven Neuerungen des Asylbewerberleistungsgesetzes kritisch und folgt der Einschätzung von PRO ASYL, dass ein weiteres Verfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2019 über verfassungswidrige Leistungskürzungen bei Hartz IV auch auf das Asylbewerberleistungsgesetz anzuwenden sei. Von Jule Nagel, Mitglied des Landtages dazu befragt, antwortet Sozialministerin Petra Köpping mit einem schlichten „Ja.“
Der Beschluss des Sozialgerichts Dresden mit den Zitaten aus Landshut und Frankfurt hier, der Beschluss des Sozialgerichts Leipzigs hier.
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