Newsletter 15/2021: Abschiebestopp Afghanistan/70 Jahre GFK/Frontex-Tribunal/OVG-Urteil Abschiebungen Italien

Afghanistan Not Safe – nirgends! Abschiebungen ins Land ausgesetzt

In den letzten Wochen hat sich die Sicherheitslage im Land nochmal dramatisch verschlechtert. Die Taliban haben am 03. August einen Angriff auf das Haus des Verteidigungsministers des Landes verübt – mehrere Menschen starben. Eine Abschiebung an diesem Tag, welche von Deutschland und Österreich gemeinsam koordiniert wurde, wurde durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte verhindert – da schlichtweg keinerlei Sicherheit für die Abzuschiebenden garantiert werden konnte. Taliban kontrollieren inzwischen 85 Prozent des Landes und erobern nun auch die Großstädte und Provinzzentren, u.a. am 08. August die ehemals von der Bundeswehr gesicherte Region um Kundus. Laut US-Geheimdiensten werden die Taliban in drei Monaten auch die letzten Posten der Regierungskräfte unter Kontrolle bringen – eine totalitäre Schreckensherrschaft der Taliban wie vor dem Jahr 2001 droht. Aus diesem Grund haben wir uns auch in einem offenen Brief, gemeinsam mit 36 anderen Organisationen der sächsischen Zivilgesellschaft, an die Landesregierung von Herr Kretschmer gewendet, um einen Abschiebestopp aus Sachsen zu fordern.

Am nächsten Tag beschloss dann endlich das Bundesinnenministerium ein Aussetzen der Abschiebungen nach Afghanistan. Nun stellt sich die Frage wie die noch im Land befindlichen Ortskräfte der Bundeswehr und NATO-Truppen schnellstmöglich evakuiert werden können. Wirklich erschreckend war die Verharmlosung der Lage vor Ort durch das Auswärtige Amt, welches veraltete Quellen nutzte und den aktuellen Bericht der UN zur zivilen Opferzahl (über 5000 seit Beginn des Jahres) missachtete. Ebenso inhuman wirkte ein Schreiben von sechs Innenministern der EU an die Europäische Kommission. In diesem bat auch Horst Seehofer darum, weiter nach Afghanistan abschieben zu können. Ansonsten, so die Innenminister, würden von den 3,6 Millionen Binnenvertriebenen im Land noch mehr nach Europa gelangen. Anstatt also Menschen im Kriegsgebiet helfen zu wollen, besteht hier Panik vor dem sogenannten „Pull-Faktor“ und dass Schutzsuchende aufgenommen werden müssten – Humanität scheint für Regierungen der EU im Jahr 2021 ein Fremdwort.

 

Spurwechsel „light“ – Mehr Geduldete in Ausbildung, aber trotzdem zu wenig

Ende 2019 waren ca. 3.600 Menschen mit einer Duldung in einer Ausbildung. Um diese Zahl zu erhöhen, wurde in 2020 auch Menschen eine Ausbildungsduldung gewährt, die in Helfertätigkeiten eine kürzere Ausbildung absolvierten. Scheinbar mit Erfolg: Denn im Mai 2021 waren es schon rund 8.000 Menschen, die eine Ausbildung absolvierten. Eine Mehrheit der Auszubildenden kommt aus Afghanistan (rund 2.000), außerdem aus Gambia, Irak, Iran und Guinea. De facto bewegen sich die Zahlen aber auf eher niedrigem Niveau. Denn in Deutschland leben mehr als 220.000 Menschen mit einer Duldung in Deutschland, nur 8.000 davon verfügen über eine Ausbildungsduldung. Es sind also zu wenige Menschen, die aktuell ihren Aufenthalt über eine Ausbildung sichern können. Die gesetzlichen Hürden sind immer noch hoch und Ermessenspielräume der Behörden werden nicht ausreichend genutzt. Mehr dazu


Frontex Tribunal ist online

Der EU-Türkei-Deal, Illegale Pushbacks und eine drohende Militarisierung der Grenzschutzbehörde. Die EU wird zur Festung, die keinerlei Interesse daran besitzt Schutzsuchende aufzunehmen. Als Instrument zur Durchsetzung wird die Grenzschutzagentur Frontex mit mehr Geldern und Befugnissen ausgestattet oder eine Kooperation mit der sogenannten „libyschen Küstenwache“ forciert, die in Wahrheit ein undurchsichtiges Geflecht aus Bürgerkriegsmilizen ist. Jedes Mittel scheint inzwischen recht, um Migration in die EU zu begrenzen. Erstmalig musste Frontex dafür nun vor dem Europäischen Parlament Rechenschaft ablegen. Zuvor fand überhaupt keine Evaluation oder offizielle Beobachtung der Arbeit dieser Behörde statt. Das Agieren im rechtsfreien Raum wurde genutzt, um selbst Pushbacks durchzuführen oder diese z.B. mit griechischer Grenzpolizei zu koordinieren. Die fatale Entwicklung von Frontex wird in diesem Tribunal, besetzt mit Expert*innen aus ganz Europa, durch zahlreiche Rechtsverstöße offengelegt. Das Ergebnis des Tribunals ist eindeutig: diese Behörde gehört aufgelöst! Mehr dazu

Drei Stimmen aus der Presse/ÖA:

1.) 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention – Aushöhlung der Rechte von Schutzsuchenden (PRO ASYL)

Nach den Vertreibungen durch den Zweiten Weltkrieg beschlossen die Vereinten Nationen im Jahr 1951, generelle Regelungen zur Aufnahme von Schutzsuchenden zu schaffen. Umso bedeutsamer waren die Beschlüsse der damaligen Zeit aus heutiger Sicht, die u.a. beinhalten, dass Geflüchtete nicht mehr für „illegale“ Grenzübertritte bestraft werden dürfen. Außerdem wurden aufnehmende Staaten durch das Zurückweisungsverbot zur vorübergehenden Aufnahme und zum Schutz der Fliehenden verpflichtet. Pro Asyl bemerkt jedoch zurecht, dass diese Regeln in der EU zunehmend außer Kraft gesetzt werden. Zum Beispiel sind unrechtmäßige Pushbacks durch Frontex oder Grenzschutzeinheiten der EU-Mitgliedsstaaten längst bewiesen und Menschen sterben täglich im Mittelmeer, während Seenotrettung kriminalisiert wird – die Missachtung der GFK immer gravierender. So ist das Jubiläum eher Grund zur Trauer, da seit der Verabschiedung vor 70 Jahren keine Weiterentwicklung der GFK, sondern eher deren kontinuierliche Aushöhlung zu bilanzieren ist.

2.) OVG-Urteil verhindert Abschiebungen nach Italien (SPIEGEL)
Im April hatte das OVG Lüneburg bereits entschieden, dass anerkannte Flüchtlinge nicht nach Griechenland abgeschoben werden können, da dort nicht mal die minimale Existenzsicherung garantiert werden könnte. Nun erklärt das OVG Münster, dass auch Abschiebungen von Geflüchteten nach Italien untersagt werden müssen. Im Urteilsspruch teilt das Gericht mit: „Die Asylanträge der Kläger können nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil ihnen für den Fall ihrer Rücküberstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung droht. Denn die Kläger geraten in Italien unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not, weil sie dort für einen längeren Zeitraum weder eine Unterkunft noch eine Arbeit finden. Beide Kläger haben für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und einer damit verbundenen Versorgung. Ihnen steht in Italien kein Recht mehr auf Unterbringung zu.“

3.) Tödliche Folgen der Flüchtlingspolitik (Dokumentation ARI)
In über 16.000 Einzelgeschehnissen zeigt diese eindrucksvolle Dokumentation die Auswirkungen des Rassismus hierzulande auf betroffene Geflüchtete. Sowohl die institutionelle als auch die gesellschaftliche Form der Diskriminierung zermürbt und zerbricht manchmal die Menschen, die ursprünglich in Deutschland Hilfe und Schutz suchten. Die Bilanz der Doku ist schockierend: im Zeitraum von 2016 bis 2020 sind jeden Monat durchschnittlich zwei bis drei Geflüchtete durch Suizid ums Leben gekommen. Das sind 159 Menschen in vier Jahren. Darüber hinaus haben 2466 Personen haben Suizidversuche oder Selbstverletzungen unternommen. Das sind 493 im Jahresdurchschnitt und mindestens 40 pro Monat. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.

Veranstaltungstipp:

Cry for Justice – Moria | ab dem 20.08.2021 | Schlossteich, Chemnitz

Vom 20.08. bis 18.09.2021 wird am Chemnitzer Schlossteich die Fotoserie „Cry for Justice – Moria“ gezeigt. Im Rahmen dieser solidarischen Ausstellung schreit die Künstlerin Jasmine Shah gemeinsam mit über 100 anderen Menschen aus Bremen und Chemnitz in die Kamera. Damit zeigen sie Haltung gegen die menschenunwürdige Unterbringung an den EU-Außengrenzen und gegen jede weitere Form von Gewalt und Rassismus an den Grenzen. Die Ausstellung ist öffentlich zugänglich und damit kostenfrei.

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