Newsletter 03/22: Solidarität für ALLE Geflüchteten | MV beschließt „Chancen-Duldung“ | Libyen: Protest vor UNHCR-Büros | Audioguide: Hilfen in 7 Sprachen

Solidarität und die Vergessenen: Ukraine-Hilfen und Besuch in EAE Schneeberg

Aktuell vollzieht sich eine Zeitenwende, in der die Hilfsbereitschaft der Gesellschaft für Ukrainer*innen grenzenlos scheint. Es gibt Menschen, die ihren Alltag danach umstellen, um Geflüchtete zu unterstützen. Es gebührt absoluter Respekt dafür, was Ehrenamtliche, NGO’s und ganze Staaten der EU dabei zu leisten im Stande sind. Länder Osteuropas, die vor kurzem Grenzen verbarrikadierten, fordern plötzlich sichere Fluchtwege, auf denen die Bahn Menschen kostenlos reisen lässt. Zuvor kriminalisierte Fluchthilfe wird nicht nur geduldet, sondern gefördert. Sachsens Ministerpräsident Kretschmer verkündet Vorbild für die Aufnahme von Geflüchteten sein zu wollen, obwohl er im vergangenen Jahr Polen beim Bau eines Grenzzaunes zu Belarus unterstützte. Wahnsinnige Zeiten, in denen noch vor einigen Monaten Schutzsuchende in polnischen Wäldern erfroren, während aktuell Millionen mit offenen Armen empfangen werden.

Vor dem 24. Februar 2022 wäre solch eine gigantische Kehrtwende der Politik undenkbar gewesen. Menschenleben zu schützen scheint also nur bei falscher Staatsangehörigkeit, Religion, Hautfarbe und zu geringer Berichterstattung zu vernachlässigen. So starben seit 2014 im Krieg in der Ostukraine über 14.000 Menschen, doch Profilbilder und Rathäuser warteten vergeblich auf blau-gelben Anstrich. Eine rechtliche Schutzbedürftigkeit für Menschen aus der Ukraine schien ebenso indiskutabel. Auch russische Luftschläge gegen zivile Infrastruktur seit 2015 in Syrien schienen weniger lebensbedrohlich.

Dabei dauert der Krieg in Syrien inzwischen 11 Jahre an, auch der Irak ist seit der US-Invasion 2003 iin der Krise und der Konflikt in Afghanistan findet seit 40 Jahren kein Ende. Unterschiedliche Konflikte mit gleichem Ergebnis: hunderttausende Tote und Staaten ohne Perspektive auf Freiheit oder Frieden. Doch anstelle des Mitleids über sinnlose, blutige Kriege wird den Betroffenen vorgeworfen selbst schuld zu sein: am Zerfall der Länder, an Diktaturen, korrupten Regimen oder Waffenexporten. Fehlt der Wille für die richtige Flagge zu sterben, scheint der Fluchtgrund nicht nobel genug. Eurozentristischer Rassismus in widerlicher Klarheit.

Am 21. März besuchten wir gemeinsam mit der taz und Camptour Linxxnet erneut die Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) in Schneeberg. Ein ausführlicher Artikel über den Besuch erschien am 12. April. Die Schatten des Krieges in der Ukraine sind so groß, dass sie das Leid anderer Geflüchteter verschlingen. Menschen aus Syrien, Afghanistan, Äthiopien, Irak, Iran, Venezuela, Libyen oder Georgien finden wenig Raum in den Schlagzeilen. Auch sie leben derzeit, genau wie Ukrainer*innen, in Massenunterkünften. Doch sie werden nicht in der Ausländerbehörde problemlos einen Aufenthalt beantragen können. Nein, sie werden über Monate in vollen Camps leben und warten. Zunächst auf einen Termin zum Interview beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Menschen aus dem Irak berichteten uns, dass sie in Schneeberg nun schon ein halbes Jahr auf diesen Tag warten. Bei Ablehnung ihres Asylantrages durch das BAMF und einer möglichen Klage wird ihre Geduld erneut strapaziert, denn sie warten meist jahrelang auf den Termin der Verhandlung.

Nach kurzer Zeit vor der Unterkunft umringen uns Menschen verschiedener Nationen und schildern ihre Probleme. Wir versuchen direkt zu helfen oder vermitteln weiter an lokale Hilfsorganisationen. Sonstige Beratung erfolgt zweimal monatlich durch BAMF-Mitarbeiter*innen. Da hier nur eine bestimmte Anzahl von Menschen informiert werden können, bilden sich in der Nacht bereits erste Schlangen, um einen Termin zu ergattern. Die Stimmung ist angespannt, über allem schwebt die Unsicherheit über die eigene Aufenthaltsperspektive. Viele wollen einen Transfer in eine Gegend, wo sie nicht so isoliert leben müssen. In der EAE in Schneeberg, die im Industriegebiet im Nirgendwo liegt, dauert der Fußweg 45 Minuten bis zum nächsten Supermarkt.

Es stellt sich nicht die Frage, ob eine Zwei-Klassen-Gesellschaft Geflüchteter existiert, sondern nur nach Optionen die Abstände zwischen den Klassen schnellstmöglich aufzulösen. Dafür bräuchte es u.a. eine Gesundheitskarte und dezentrale Unterbringung für alle, eine Abschaffung des AsylbLG und Asylverfahren, die allen Menschen in Not Schutz gewähren.

Umfrage des Paritätischen macht Diskriminierung durch Wohnsitzregelung sichtbar

Seit dem Jahr 2016 legt § 12a AufenthG legt fest, dass sich anerkannte Asylbewerber*innen drei Jahre im Landkreis der Antragstellung aufhalten müssen. Eine bundesweite Umfrage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ergab nun, dass diese Regelung negative Auswirkungen für das Ankommen von Geflüchteten verursacht. Die Regelung erschwert besonders die Wohnungssuche und Wohnraumversorgung, den Zugang zu Arbeit und Ausbildung, gegenseitige familiäre Unterstützung sowie den Schutz vor Gewalt.

Wer bspw. bereits Verwandtschaft in einer deutschen Stadt besitzt, aber aufgrund der Wohnsitzregelung nicht zu dieser ziehen kann, findet sich im Alltag schlechter zurecht. Die Regelung blockiert somit aktiv Möglichkeiten der „Integration“ von Schutzsuchenden. Das Auflösen der Wohnsitzregelung ist nur in Härtefällen möglich, hierfür sei für die Betroffenen die Hilfe unabhängiger Beratungsstellen unabdingbar, um entsprechende Ansprüche durchzusetzen.

Landtag in Mecklenburg-Vorpommern beschließt „Chancen-Aufenthaltsrecht“ – Freistaat zum Handeln aufgefordert

Geduldete, die zum 1. Januar 2022 bereits fünf Jahre in Deutschland leben, können nun einen einjährigen Aufenthaltstitel erhalten. Damit orientiert sich das Kabinett der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) per Vorgriffsrecht am Koalitionsvertrag der Bundesregierung und schützt lange in Deutschland Lebende vor Abschiebung. Wenn Menschen berufstätig sind oder sich im Ehrenamt engagieren, Spracherwerb vorweisen und straffrei blieben, besteht eine Option auf Aufenthalt.

Auch in Sachsen würde solch eine Regelung tausenden Langzeitgeduldeten endlich eine Perspektive bieten. Neben dem sozialen Aspekt für Betroffene existieren hierfür auch pragmatische Gründe, und Unternehmen wie Behörden würden gleichsam profitieren. Zunächst entsteht Planungssicherheit für Arbeitgeber*innen, die Menschen mit Duldung beschäftigen. Aber auch Behörden können durch Einführung des „Chancen-Aufenthalts“ entlastet werden, da bspw. keine kosten- sowie zeitintensiven Abschiebungen mehr geplant werden müssen. Der sächsische Landtag sollte sich daher an diesem gemeinsamen Erlass von SPD, Grünen, Linke und FDP aus Schwerin orientieren. Zuvor hatten bereits Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Thüringen ähnliche Vorgriffsregelungen erlassen. Das sächsische Innenministerium lehnte unseren gemeinsam mit Verbänden verfassten Vorschlag zur Einführung solch einer Regelung bislang ab.

Mehr Infos dazu vom Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern.

Neu auf Webseite: Infos zum Nachhören in sieben Sprachen!

Auf unserer Homepage ist jetzt ein Audioguide zu den Themen „Duldung“, „Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung“ und „Rechte und Pflichten bei Behördenterminen“ verfügbar.

Die Audios sind in jeweils sieben Sprachen (deutsch, georgisch, russisch, urdu, arabisch, persisch und spanisch) verfügbar und können auch heruntergeladen werden, um sie z.B. per Messenger in den jeweiligen Communities zu teilen.

LINK zum Audioguide

Drei Stimmen aus der Presse:

1.) Fehlender Stempel: Ukrainische Kinder bekommen kein Kita-Essen (MDR)

Seit mehr als einem Monat sind in vielen Kommunen Sachsens Ukrainer*innen auf ehrenamtliche Versorgung angewiesen. Doch die finanziellen und zeitlichen Reserven der Ehrenamtlichen geraten an ihre Grenzen. Veronika Smolka, Vorsitzende des Ukraine-Vereins in Chemnitz, schreibt uns verzweifelt: „Letzten Mittwoch haben wir über 200 Menschen versorgt. Wir waren vorher für mehr als Tausend Euro Grundnahrungsmittel und Medizin einkaufen, doch mussten am späten Nachmittag nochmal Nachschub organisieren.“ Inzwischen gibt es in der Stadt Lebensmittelgutscheine, die die erste Grundversorgung absichern. Auch aus Radebeul, Meissen, Pirna und Plauen erreichen uns ähnliche Schreiben, die auf Überforderung der Ehrenamtlichen hindeuten. Wie es besser laufen kann, zeigt die Stadt Leipzig, die in einer Turnhalle alle Behördengänge zentralisiert hat. Melde- und Fiktionsbescheinigung, Antrag auf Leistungen und Informationen zur Kontoeröffnung werden hier in einem einzigen Termingang erledigt. Ukrainer*innen erhielten hier zum Teil direkt im Anschluss an Antragstellungen Leistungen ausgezahlt.

2.) Alle haben ein Leben nach der Flucht verdient (Sächsische Zeitung)

Franziska Klemenz fasst in einem wichtigen Kommentar viele Aspekte der aktuell herrschenden Zwei-Klassen-Gesellschaft unter Geflüchteten zusammen. Dass in der deutschen Gesellschaft eine selektive Solidarität für Geflüchtete aus der Ukraine existiere, ist genauso wenig abzustreiten, wie die Tatsache, dass Herkunft und Hautfarbe dafür eine Ursache bilden. Im Artikel wird klar, dass Geflüchteten anderer Länder der Einstieg in die Mehrheitsgesellschaft ungleich erschwert wurde: „Sie irren so lange durch den Bürokratie-Dschungel, dass sie stürzen und aufgeben. Die Lehrerin aus Afghanistan, die nicht detailtreu in deutsche Schablonen passt, folglich beim Hauptschulabschluss anfangen muss. Die Zahnärztin aus Syrien, die keine Betreuung für ihre Kinder findet, Sprachkurse nur ohne sie und deshalb nicht besuchen kann.“

3.) Libyen: »Ich möchte die Welt daran erinnern, dass wir Menschen sind« (Pro Asyl)

Das Leid von Menschen auf der Flucht, die in Libyen festhängen gerät zunehmend aus dem Bewusstsein hierzulande. Weiterhin werden also Menschen auf Sklavenmärkten angeboten – Folter, Vergewaltigung und Ausbeutung sind ihr alltäglicher Horror. Deswegen haben seit Oktober 2021 viele Menschen aus Somalia, Südsudan, Eritrea, Äthiopien oder Uganda vor den Gebäuden des UNHCR protestiert. 5000 von ihnen, darunter auch viele Frauen und Kinder, wurden daraufhin von libyschen Sicherheitskräften inhaftiert. Interessiert hat es Wenige und noch weniger hat sich an der dramatischen Lage der Menschen vor Ort geändert. Deswegen sprachen Vertreter*innen der „Refugees in Libya“ am 13. April selbst zu ihrer Lage. Charlie, Mitglied der Protestgruppe, sagt: »Klären Sie alle darüber auf, was mit uns geschieht. Verbreiten Sie die Nachricht in Kirchen, Vereinen, bei Ihren Politikern. Sie leben in einer Demokratie! Seien Sie unsere Ohren, Hände und Stimmen in Ihren Ländern. Sagen Sie Ihren Politikern, dass unsere Leben genauso wichtig sein wie ihre. Wir zählen auf jeden Einzelnen von Ihnen. Bitte helfen Sie uns.«

Veranstaltungshinweise:

Infoveranstaltung: Unterbringung und Versorgung Schutzsuchender in Sachsen | Dresden | 19.04. um 17 Uhr

Nicht erst seit dem Ankommen der Ukrainer*innen lebten Geflüchtete in unwürdigen Massenunterkünften. Die Linksjugend Dresden hat daher eine Veranstaltung zur Lage der Unterbringung und Versorgung aller Schutzsuchenden in Sachsen organisiert. Neben der Abgeordneten Juliane Nagel (Die Linke), Initiativen aus Dresden und dem SFR wird auch Dr. Tammam Hassan vor Ort sein, der bis vor kurzem noch selbst in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Schneeberg lebte und aus dem Lageralltag berichten wird.

Veranstaltungsort ist die Wir AG auf der Martin-Luther-Str. 21 in Dresden. Es wird um 3G-Nachweis gebeten. Mehr Infos unter diesem LINK.

Digitale Frühjahrstagung des Flüchtlingsrates Baden-Württemberg | Online | 21. – 27.04.

Start der Tagung am 21. April bildet ein Vortrag von Eric Marquardt, Abgeordneter der Grünen im Europaparlament, zur Lage an den europäischen Außengrenzen und deren zunehmende Militarisierung. Weiter finden u.a. Veranstaltungen zum Familiennachzug aus Eritrea; dem Arbeitsrecht für Geflüchtete und möglichen Stolperfallen sowie zu Möglichkeiten Leistungskürzungen des AsylbLG zu verhindern.

Mehr Infos unter diesem LINK.

Asyl bei Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Ukraine-Krieg | Online | 27.04. um 14 Uhr

Im Online Seminar wird zunächst Rudi Friedrich über die Rechtslage zur Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Russland und der Ukraine sprechen. Im Anschluss werden Peter von Auer und Antje Becker von Pro Asyl rechtliche Möglichkeiten für die verschiedenen Gruppen ausloten. Am Ende wird aus der Beratungspraxis mit Kriegsdienstverweigerern berichtet, die erfolgreich einen Flüchtlingsschutz erhalten konnten.

Mehr Infos und Anmeldung unter diesem LINK.

Fußballtraining für Mädchen/Frauen | Leipzig | ab 27.04. jeden Mittwoch 17 Uhr

Eine Gruppe von Spielerinnen* und Trainerinnen* des Roten Stern Leipzigs werden ab dem 27. April jeden Mittwoch ein offenes Fußballangebot für Frauen* und Mädchen* ab 14 Jahren anbieten.
Das Training mit dem Namen “Let’s Kick It!” soll Frauen* und Mädchen* mit Migrations- oder Fluchtbiographie die Chance geben, zusammen Fußball zu spielen. Dabei spielt es keine Rolle, ob bereits Erfahrungen bestehen – Spaß und Gemeinschaft stehen im Vordergrund.

Das Training findet 1x pro Woche am Mittwoch, 17-18:30 Uhr in der Arno-Nitzsche-Straße 35 statt.

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