Newsletter 06/2022: GREVIO-Bericht | Abschiebestopp Iran | Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan | Abschaffung Diskretionsprognose

Liebe Newsletterabonnent:innen,

nach einem Monat Pause gibt es von uns nun wieder einen Newsletter. Es ist viel passiert!

Im September veranstaltete unser Projekt QuBe einen Fachtag zur UN-Kinderrechtskonvention. Leider fristet deren Umsetzung im Asyl- und Aufenthaltsrecht oftmals ein Schattendasein. Der Fachtag brachte Akteur*innen der Asyl- und Migrationsberatung, der Kinder- und Jugendhilfe, sowie Rechtsanwält*innen zusammen, um über aktuelle Herausforderungen und Handlungsoptionen in der Praxis zu diskutieren.

Auch das Feiern kam nicht zu kurz. Das Projekt Resque feierte im September sein siebenjähriges Jubiläum. Resque hat in den letzten Jahren über 3500 Geflüchtete in ganz Sachsen langfristig eng beraten zum Festigen eines ungesicherten Aufenthaltsstatus. Zum Glück steht eine neue Förderung bereits in Aussicht. Schwerpunkt unserer Arbeit soll dabei das Chancen-Aufenthaltsrecht, die vom Bund angekündigte Reform der Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung und die lang ersehnte Abschaffung von Arbeitsverboten sein.

Ein weiterer Fachtag organisierte unsere Asylberatung im Oktober zu Pakistan. Die Inputs drehten sich um die menschenrechtliche Lage in Pakistan, sowie die Situation für Schutzsuchende pakistanischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. In den Fokus nahmen wir dabei die Lage von religiösen und ethnischen Minderheiten, sowie Betroffener patriarchaler Strukturen.

Ebenfalls organisierten wir in den letzten Wochen drei Filmvorführungen mit dem Regisseur Djif Djimeli von Afrique Europe Interact und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Djif Djimelis Film „Die vergessenen Migrant*innen“ beleuchtet in den Portraits von vier Migrant:innen, die in Mali unterwegs sind, die Auswirkungen des Klimawandels und den Einfluss des tödlichen EU-Grenzregimes auf Mobilität in Westafrika.

Aktuelles aus dem Asyl- und Aufenthaltsrecht

Europarat veröffentlicht Bericht zu Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland

Das Expert*innengremium GREVIO des Europarats hat letzte Woche seinen Bericht zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland veröffentlicht, der sich mit dem Stand der Umsetzung von Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen auseinandersetzt. Eine Zusammenfassung auf Deutsch ist hier erhältlich.

GREVIO kritisiert unter anderem den mangelhaften Ausbau von Beratungsstellen und Frauenhäusern, fordert bessere Ausbildung von Berufsgruppen, die mit von Gewalt betroffenen Frauen in Berührung kommen, und die Etablierung eines nationalen Aktionsplans sowie einer Koordinierungsstelle. Der Bericht analysiert auch die Bedingungen für geflüchtete Frauen und Mädchen in Massenunterkünften:

„Diese bieten nicht die Bedingungen, unter denen Frauen und Mädchen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung geflohen sind, ihre Erlebnisse verarbeiten können, um sie im Rahmen einer Asylanhörung vorzubringen. Zu den größten Problemen in den Sammelunterkünften gehören unsichere Waschräume, unverschließbare Zimmer oder Schlafräume, die nicht nach Geschlechtern getrennt sind, schlechte Beleuchtung, fehlende Rückzugsräume, Missbrauch durch Sicherheitspersonal, mangelhafter Umgang mit Vorfällen von Belästigung und Missbrauch durch männliche Bewohner, sowie der Nichtdurchsetzung von Schutzanordnungen gegen misshandelnde (Ehe)partner. Das Screening von Asylbewerberinnen auf besondere Vulnerabilität und deren Weiterverweisung an Fachberatungsstellen müssen verstärkt werden und fester Bestandteil standardisierter Protokolle zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt in Asylaufnahmeeinrichtungen werden.“

PRO ASYL und Landesflüchtlingsräte hatten im letzten Jahr einen Schattenbericht erstellt, dessen Ergebnisse offenbar auch mit in den offiziellen Grevio-Bericht eingeflossen sind.

Abschiebestopp Iran

Die Situation im Iran spitzt sich immer mehr zu. Der feministische, demokratische Protest der jungen Menschen weitet sich auf immer mehr Teile der Bevölkerung aus. Erste Militärangehörige bestätigten zwar, dass sie sich mit den Protestierenden solidarisieren, aber die Zahl derer, die durch iranische Sicherheitskräfte getötet werden, wächst täglich. Aktuell ist der Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung stärker als die Angst.

Angst mussten lange Zeit auch die 380 Iraner*innen in Sachsen haben, die von Abschiebung bedroht waren. Noch vor einigen Wochen versuchten bayrische Behörden einen Iraner unter Angaben falscher Tatsachen zu einem Termin zu lotsen, um diesen dann abzuschieben. Nach öffentlichem Widerstand und nach der Forderung eines Abschiebestopps in den Iran von Pro Asyl und der Landesflüchtlingsräte, wurde dieser inzwischen von den meisten Bundesländern und auch in Sachsen veranlasst.

Kritik am Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan

Das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan ist da – ein wichtiger Schritt, zumal dessen Einführung zunächst erst für das kommende Jahr 2023 befürchtet wurde. Monatlich sollen nun 1000 Personen aus Afghanistan in Deutschland aufgenommen werden. PRO ASYL hat eine umfassende Analyse und Kritik am Aufnahmeprogramm veröffentlicht. Die Knackpunkte? Die Entscheidung über Aufnahme soll de facto per Algorithmus geschehen. Dafür setzt das Auswärtige Amt ein IT-Scoringsystem ein, welches bei fehlenden Sprach- und IT-Kenntnissen von Antragsteller*innen schnell zur Aussortierung des eigenen Antrags führen kann.

Auch ist kritisch zu betrachten, dass sich Schutzsuchende nicht selbst für das Aufnahmeprogramm bewerben können. Die Bewerbung ist nur über bestimmte, in Deutschland registrierte und vom Bundesinnenministerium akzeptierte NGOs möglich. Viele der NGOs melden sich nicht öffentlich – aus Sorge, mit Anträgen überrannt zu werden.

Wir sind keine meldeberechtigte Stelle und werden in den kommenden Tagen eine Übersicht an Handlungsoptionen für Ratsuchende auf unserer Website veröffentlichen. Viele Fragen sind auch bei uns weiterhin offen.

Abschaffung der unwürdigen Diskretionsprognose für LGBTQI-Geflüchtete

Lange Zeit legte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei der Bewertung von Asylanträgen von LSBTI (lesbische, schwule, bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche)-Geflüchteten Maßstäbe an, die als durch und durch queerfeindlich und diskriminierend bezeichnet werden können. Die Rede ist von der sogenannten Diskretionsprognose. Dabei wurden die Asylanträge von queeren Geflüchteten einer zweistufigen Prüfung unterzogen. Zunächst mussten Geflüchtete ihre sexuelle Orientierung bzw. ihre geschlechtliche Identität glaubhaft vortragen. In einem zweiten Schritt mussten sie ferner darlegen, dass ihnen bei Rückkehr in ihr Herkunftsland Verfolgung droht. Tückisch war dabei, dass sich das BAMF bei der zweiten Stufe, also der Frage der Verfolgungsprognose bei Rückkehr, daran orientierte, ob die Person im Herkunftsland geoutet leben will oder nicht. Gab jemand zu erkennen, im Herkunftsland nicht geoutet leben zu wollen, nahm das BAMF bei diesem „diskreten Verhalten“ keine Verfolgungslage an. Der LSVD beschreibt trefflich die Gefahren, die mit der Diskretionsprognose einhergingen. Zwangs-Outings, oder auch der im Laufe des Lebens sich ändernde Wunsch nach einem eigenen Outing, fanden in der Prognose des BAMF bisher keine Berücksichtigung.

Nun hat das Bundesinnenministerium die diskriminierende Praxis der Diskretionsprognose endlich abgeschafft, indem es die Dienstanweisung zur Entscheidungspraxis des BAMF bei queeren Geflüchtete geändert hat. Damit ist ein Meilenstein geschafft!

Vier Stimmen aus der Presse

1) Human Rights Watch: Türkei schiebt Hunderte Flüchtlinge nach Syrien ab (DW)

Ein neu veröffentlichter Bericht von Human Rights Watch zeigt: die Türkei hat zwischen Februar und Juli 2022 zahlreiche syrische Geflüchtete gewaltvoll nach Syrien abgeschoben. Laut Human Rights Watch hätte Sicherheitskräfte die Geflüchteten „in ihren Wohnungen, an ihren Arbeitsplätzen oder auf der Straße in der Türkei festgenommen. Sie seien oftmals geschlagen und misshandelt und dann gezwungen worden, Formulare für die ‚freiwillige Rückkehr‘ nach Syrien zu unterschreiben. Anschließend habe man sie zu Grenzübergängen nach Nordsyrien gefahren und mit vorgehaltener Waffe gezwungen, das türkische Staatsgebiet zu verlassen.“ Dabei handelt es sich um eine ganz klar völkerrechtswidrige Praxis der Türkei.

Die Abschiebepraxis der Türkei ist einer der traurigen Gründe, weshalb sich derzeit wieder vermehrt Menschen auf der Balkanroute in Richtung Westeuropa bewegen. Denn alles scheint besser, als in das kriegszerrüttete Syrien abgeschoben zu werden.

2) Zahl der Geflüchteten auf Balkanroute fast verdreifacht (mdr)

Erdogans vermehrte Abschiebungen von Personen syrischer Staatsangehörigkeit aus der Türkei nach Syrien macht sich auch in Sachsen bemerkbar. Nach Informationen der Landesdirektion Sachsen ist die häufigste Nationalität unter den Neuzugängen an Asylbewerber*innen in Sachsen derzeit Syrien. Auch der mdr berichtet: über die westliche Balkanroute sind bis September 2022 fast dreimal so viele Menschen in die Europäische Union geflüchtet als noch im Vorjahr.

Statt Panik braucht es nun Solidarität mit den in Sachsen ankommenden Asylsuchenden. Denn es handelt sich bei den Personen nicht um „illegale Migrant*innen“, sondern um eine durch unser Grundgesetz, europäisches und internationales Recht geschützte Personengruppe. Bundesinnenministerin Faeser betont zum einen die Bereitschaft der Aufnahme von Menschen aus der Ukraine und will auf der anderen Seite die Flucht von sogenannten „Illegalen“ unterbinden. Nur weil hierzulande weniger Bewusstsein für die Katastrophen in Syrien oder Afghanistan besteht, ist dies längst kein Grund, Menschen in eine Diktatur abzuschieben oder ihnen Schutz zu verwehren!

3) Ein klares Votum gegen Frontex (tagesschau)

Das EU-Parlament hat aufgrund der anhaltenden Skandale um die sogenannte Grenzschutzagentur FRONTEX ein Zeichen gesetzt und der Agentur die Haushaltsentlastung verweigert. Alle drei hauptverantwortlichen Positionen bei FRONTEX wurden in den letzten Monaten ausgetauscht, nachdem bekannt geworden war, dass die Agentur Pushback-Vorfälle vertuschte und nicht weiter untersuchte. Strukturell hat sich jedoch nichts in der Agentur geändert. FRONTEX bleibt ein gewaltvoller Akteur des europäischen Abschottungsregimes, auch wenn es nun ein paar mehr Menschenrechtsbeauftragte innerhalb der Agentur gibt und eine neue Leitung.

4) Fluchthelfer – humanitäre Hilfe oder kriminelle Schleusung? (Das Erste)

Es gibt humanitäre Fluchthelfer*innen, die Geflüchtete ohne finanzielle Gegenleistung nach Deutschland bringen. Das EU-Recht stuft diese Hilfe als organisierte Schleusung ein, es drohen lange Haftstrafen, trotz der Unentgeltlichkeit und dem humanitären Charakter der Hilfe. Ein SWR-Investigativteam hat ein Team von Fluchthelfer*innen und die Flucht einer kurdischen Familie aus dem Nordirak, die zwischenzeitlich auch im Elendslager Moria lebte, begleitet. Ein Bericht über Grenzüberschreitungen in vielerlei Hinsicht.

Veranstaltungen

Demonstration „Aufnehmen statt Abschieben“
Mittwoch, 16.11.2022, 14 Uhr, Abschiebehaft Dresden

Anlässlich der versuchten brutalen Abschiebung an Mohammad K., und den vielen hundert Fällen, die jährlich außerhalb des Radars der sächsischen Öffentlichkeit abgeschoben werden, veranstalten die Abschiebehaftkontaktgruppe Dresden, die Seebrücke Dresden und wir eine Demo vor der Abschiebehaftanstalt. Es wird Musik geben, Redebeiträge und eine gehörige Portion Kritik an der restriktiven sächsischen Migrationspolitik. Mehr Infos veröffentlichen wir in den kommenden Tagen auf unseren Social-Media-Kanälen.

“Right here, Right now” MOVE IT! Filmfestival für Menschenrechte
03. bis 9. November 2022, Dresden

Was bedeuten uns Menschenrechte? Wie und wo wirken sie heute? Und welche Verantwortung tragen wir alle dafür? Das MOVE IT! Filmfestival versteht Filme als ein Fenster zur Welt und idealen Ausgangspunkte für Reflexionen und ehrliche Diskussionen über ihren Zustand. Die Organisator*innen zeigen alljährlich im November ausgewählte Dokumentar- und Spielfilme, und laden ihre Besucher*innen ein, mit Filmemacher*innen, Aktivist*innen und Fachexpert*innen ins Gespräch zu kommen.

Fachtag „Solidarität in der Migrationsgesellschaft: gleiches Recht für alle“
Donnerstag, 10. November 2022., Bautzen

Das Komitee von Migrantenselbstorganisationen im Landkreis Bautzen lädt alle in Sachsen lebenden Menschen mit eigener Migrationsgeschichte sowie engagierte Menschen aus Politik, Verwaltungen und Zivilgesellschaft zum Fachtag „Solidarität in der Migrationsgesellschaft: gleiches Recht für alle“ ein. Die Veranstaltung soll die systematische Ungleichbehandlung von migrierten, insbesondere geflüchteten Menschen in Deutschland thematisieren und über Wege zu Gleichberechtigung ins Gespräch führen.

Ausstellung „Nothing about us without us” Netzwerk medien.vielfalt”
27. – 30.
Oktober 2022, Freie Alternativschule, Stauffenbergallee 4a Dresden

Das Netzwerk medien.vielfalt!, ein neues transkulturelles Netzwerk von Medienmacher:innen organisiert eine Ausstellung in Dresden. Sie verbinden unterschiedliche Medienprojekte von Geflüchteten und Migrant:innen in ganz Deutschland. Ihre Inhalte verstärken die Stimmen von Menschen, die Diskriminierung erfahren und mit den Nachteilen leben müssen, die es mit sich bringt, nicht als Teil der “deutschen Gesellschaft“ gesehen zu werden. Was heißt es, sich in mediale Debatten einzumischen und journalistisch aktiv zu sein, wenn man selbst Flucht- und Migrationserfahrung hat und von Rassismus betroffen ist?
Durch die Ausstellung “Nothing about us without us” wollen sie eine neue Perspektive in die deutsche Medienlandschaft einbringen.: „Wir berichten, was uns bewegt – und wir wollen die Debatte über Flucht und Migration mitgestalten.“

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