Newsletter 04/2023: 110 Millionen Menschen auf der Flucht / Abschiebeversuch Venezuela / Familie Pham/Nguyen

Dresden, 10.07.2023

Liebe Newsletterabonnent:innen,

weltweit befinden sich derzeit 110 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist ein absoluter Rekordwert, der nicht vom Himmel fällt, sondern zur Schau stellt, welche konkreten Umstände in der heutigen Welt herrschen: Kriege, verschärfte Ausbeutung und Klimakatastrophe werden für immer mehr Regionen und Menschen Alltag. Die Geflüchteten stellen dahingehend nicht die Verantwortlichen dieser Situation dar, ganz im Gegenteil: Die steigende Zahl der Geflüchteten spiegelt die Zuspitzung des Elends aufgrund von Kriegen, Klimakatastrophe und der Krise des exponentiellen Wachstums von kapitalistischen Verhältnissen wider.

Die aktuelle Zahl der Vertriebenen teilte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR in seinem Jahresbericht, der am 28. Juli 2023 veröffentlich wurde. Dabei bildet nicht nur die Gesamtzahl, sondern auch der jährliche Anstieg neue Rekorde ab. Von den bis Ende 2022 vertriebenen 108,4 Millionen Menschen sind 35,3 Millionen Geflüchtete, die eine internationale Grenze überquerten und 62,5 Millionen Menschen mussten sich innerhalb ihrer Heimatländer auf die Suche nach einem sicheren Ort machen. Bei 41 Prozent der Gesamtzahl handelt es sich um Kinder.

Hinter jeder einzelnen Zahl steckt ein Menschenleben und diese Binsenweisheit muss jedes Mal erneut betont werden – denn gegenüber des wachsenden Elends haben wir mit einerseits einer abnehmenden Empathie und Solidarität, andererseits gleichlaufend wachsenden autoritären Maßnahmen und rechtspopulistischen und rassistischen Tendenzen zu tun. Dies zeigten letztlich die Geschehnisse und die strukturellen Reaktionen um das Schiffsunglück mit mehr als 500 Todesopfern vor der griechischen Küste und die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS).

Durch immer repressivere Maßnahmen gerät selbst die Genfer Konvention, die den internationalen Rechtskonsens zur Flucht definiert, ins Wanken. Auch auf diesen Ausnahmezustand bezüglich der (Menschen-)Rechte der Geflüchteten stützt sich die Zunahme der rechtspopulistischen, sexistischen und rassistischen Strömungen. Im Konkreten heißt das: Menschen verlieren ihre Lebensgrundlagen durch weltweite Krisen, Kriege und Katastrophen und die Antwort der Mächtigsten auf globaler Basis lautet: Ausbau der Grenzzäune! Gleichzeitig wird aber dafür geworben, dass diese Länder noch ihr intelligentes Kapital (aka „Fachkräfte“) nach Deutschland vermitteln sollen.

Die rasante Steigerung der Inflation und das Schrumpfen der Löhne sind in dieser marktorientierten Logik nicht zwingend ein Problem und kann sogar den Interessen von westlichen Ländern dienen. Wenn sich darüber die Unzufriedenheit der jeweiligen Gesellschaften ausweitet und schwer zu regierende Migrations- und Fluchtbewegungen entstehen, kommen Diktaturen ins Spiel, die von der Europäischen Union nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt werden. Am Beispiel der Türkei macht sich aktuell dieser Code der Entwicklung unübersehbar: Eine Mischung aus „hold the door“ und „work harder“.

Brutale Abschiebeversuche von Sachsen nach Venezuela – auch vulnerable Gruppen betroffen

Seit Beginn des Jahres finden wieder Abschiebungen aus dem Freistaat nach Caracas statt. Dabei ist Sachsen Hauptaufnahmeland für das südamerikanische Land, aus dem im letzten Jahr 1249 Personen im Freistaat ankamen. Genau deshalb besteht hier bereits eine gut vernetzte Community, wie bei unserer gemeinsamen Veranstaltung (MDR berichtete) am 20. Mai sichtbar wurde. Diese befindet sich aktuell in Aufruhr, da mehrfach auch vulnerable Gruppen von der brutalen Abschiebepraxis betroffen waren. So sollte die schwangere Lebenspartnerin eines EU-Bürgers allein abgeschoben werden, obwohl diese sich ab August im Mutterschutz befindet. Die Abschiebung wurde schlussendlich abgebrochen. Partner und Betroffene leben in Chemnitz und waren schockiert über diesen Versuch eine werdende Familie zu trennen.

Diese von uns dokumentierte Unmenschlichkeit ist leider kein Einzelfall. Im April fand der Abschiebeversuch der schwer erkrankten 73-jährigen Venezolanerin Frau P. aus Chemnitz statt, die mit ihrem Sohn und dessen Familie in der Stadt lebt. Auch hier sollte eine Familie getrennt werden. Aufgrund ihres fragilen Gesundheitszustandes wurde im Klinikum Chemnitz ärztlich die Reiseunfähigkeit von Frau P. festgestellt und die Abschiebung schließlich abgebrochen. In allen Fällen sind Abschiebungen der Behörden in ein totalitär regiertes Land, aus dem über 7 Millionen Menschen flohen und welches nicht in der Lage ist die eigene Bevölkerung mit Nahrung versorgen, zu verurteilen. Seit Jahren existiert bereits eine dringende Empfehlung des UNHCR an die Staaten, keine Abschiebungen nach Venezuela durchzuführen.

Vier Stimmen aus der Presse:

1.) OECD-Studie: Armutsrisiko trotz höherer Bildungsabschlüsse bei Kindern migrierter Eltern (MiGAZIN)

Laut einer Studie von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stehen die Kinder von im Ausland geborenen Eltern unter einem höheren Armutsrisiko. In Deutschland sei diese Ungleichheit zwar der Fall, aber aufgrund der besseren Bedingungen geringer ausgeprägt als in den übrigen Ländern. Zudem werde der Anteil der Migrant:innen mit hohem Bildungsniveau immer größer. Der OECD zufolge gebe es am Arbeitsmarkt und bei der Bildung positive Entwicklungen bezüglich der Integration: Die Hälfte der jungen Menschen mit Migrationsgeschichte habe ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern – unter den jungen Menschen mit in Deutschland geborenen Eltern sind das etwa 30 Prozent. Dennoch seien in Deutschland besonders junge Menschen, die im Kindesalter eingewandert sind, für ihre Arbeit überqualifiziert. Die OECD schlussfolgert, dass in den EU-Ländern die öffentliche, meist kritische Wahrnehmung von Migrant:innen im Gegensatz zu den verfügbaren Fakten stehe.

2.) Rechter Richter am Verwaltungsgericht Dresden (Süddeutsche Zeitung)

Dr. Markus Scheffer entscheidet als Richter am Dresdener Verwaltungsgericht über Klagen von Menschen im Asylverfahren. Ausgerechnet in dieser Position folgt er in einem Beitrag einer rechts-nationalistischen Zeitung den Inhalten der Pegida-Proteste. Schlagwörter „unkontrollierter Masseneinwanderung“ wie der ewig falsche Vergleich der Regierung unter Angela Merkel mit den Zuständen der DDR und auch die Hetze gegen „Multikulti“ sind bekannte Muster rechtsextremer Propaganda. Ursache für Flucht seien laut Scheffler nicht die Katastrophen in Syrien, Afghanistan oder Venezuela usw., sondern die verfehlte Grenzpolitik Merkels.

Es ist der nächste Fall in der Dresdener Justiz, nachdem z.B. bereits der vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingestufte, ehemalige Bundestagsabgeordnete Jens Maier (AfD) in Dresden nicht mehr als Richter tätig sein darf. Allerdings sieht die Kollegenschaft der Richter am Verwaltungsgericht Dresden keinerlei Anlass zur Besorgnis der Befangenheit oder gar ausländerfeindlicher Gesinnung bei Scheffler. Schwer zu sagen, welcher Skandal hier größer wiegt: Ein aktiver Richter, der seit 2015 Polemiken zum Thema Migration verfasst und über Menschen im Asylverfahren entscheidet oder keinerlei arbeitsrechtliche Konsequenzen. Erneut werden sächsische Verhältnisse deutlich, die selbst politische Neutralitätsgebote bei Gerichten missachten.

3) Menschenrechte zum „Kaufen“ (Tagesschau)

Laut der Wirtschaftsweise Monika Schnitzer braucht Deutschland „1,5 Millionen Zuwanderer im Jahr, wenn wir abzüglich der beträchtlichen Abwanderung jedes Jahr 400.000 neue Bürger haben und so die Zahl der Arbeitskräfte halten wollen.“ Zudem hat sich die FDP bezüglich des „Fachkräftemangels“ zu Wort gemeldet und für die Einstellung von Erzieher:innen mit wenig Deutsch-Kenntnissen plädiert. Dass die Migrationsdebatte mit dem Wort „Fachkraft“ beschattet wird, weist auf eines hin: Deutschland braucht mehr Arbeitskräfte, will sie aber nicht selbst ausbilden. Stattdessen werden die qualifizierten Arbeitskräfte in ärmeren Ländern dazu ermutigt, nach Deutschland zu kommen.

Genau hier passiert ein „vermeintliches Paradoxon“: Es werden einerseits die Außengrenzen der Festung-EU verdichtet, andererseits tagtäglich die Notwendigkeit von Zuwanderung der Fachkräfte propagiert. Wie geht es denn zusammen? Dahinter steckt die marktorientierte Logik, die den Menschen ihre Grundrechte (darunter auch das Recht auf ein sicheres Leben) nach ihrer Verwertungsmöglichkeit gewährt. Die Menschenrechte zum „Kaufen“ könnte man unter den Umständen fast rufen, wo über den Grad des „Menschseins“ durch eine Überprüfung zum Verhältnis zum Markt entschieden wird.

4) Familie Pham/Nguyen: Umzug aus Verzweiflung (Sächsischer Flüchtlingsrat)

Die Ausländerbehörde Chemnitz genehmigte der Familie Pham/Nguyen, die weiterhin von Abschiebung bedroht ist, den Umzug nach Berlin. Dies teilte die Pressestelle der Stadt mit, nachdem die Familie gemeinsam mit Rechtsanwältin Fleische die Streichung der Wohnsitzauflage beantragte. Denn eine Aufenthaltsperspektive der Familie in Sachsen blieb trotz unbefristeterer Beschäftigung und Einreichen von Sprachzertifikaten weiterhin ungesichert.   Dave Schmidtke, Pressesprecher des sächsischen Flüchtlingsrats, kommentierte den Umzug gegenüber der dpd: „Es ist ein Schritt aus aufenthaltsrechtlicher Verzweiflung.“ Positiv daran sei, dass das sächsische „Behörden-Pingpong“ ein Ende finde. Es bleibe gleichwohl fraglich, ob der Wegzug aus Sachsen ein dauerhaftes Bleiberecht für die Familie bewirken werde. Die Behörden in Berlin würden sich sicherlich an den vorherigen Entscheidungen orientieren, aber sie hätten einen Ermessensspielraum. „Es besteht keine Sicherheit, aber mehr Hoffnung als in Sachsen“, so Schmidtke. Inzwischen hat die Familie auch die faktische Streichung der Wohnsitzauflage und den Umzug in die Hauptstadt genehmigt bekommen.

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