PM Minderjähriger wird zum Spielball zwischen Jugendhilfe- und Erstaufnahmeeinrichtung

Amir M. (Name geändert) kam als Minderjähriger unbegleitet im April 2021 aus Afghanistan nach Deutschland. Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in einer -höchst umstrittenen – Altersfeststellung seine Volljährigkeit erklärte, entzog ihm das Jugendamt im Dezember 2022 plötzlich den Platz in seiner Wohngruppe. Aber die Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden nahm ihn nicht auf, da sie weiterhin von seiner Minderjährigkeit ausging. Ohne Unterstützung der Jugendhilfeeinrichtung, wäre er zum damaligen Zeitpunkt obdachlos gewesen.

„Ich hatte meine Freunde, ich hatte meinen Alltag und wollte einfach in Ruhe meinen Schulabschluss machen,“ erklärt Amir M. Er besuchte eine Oberschule und wollte diesen Sommer die 9. Klasse abschließen. Seit seiner Ankunft lebte er in einer Wohngruppe für minderjährige Geflüchtete in Dresden. Dass er kurzerhand einfach aus seinem Umfeld gerissen wurde, hat ihn sehr verunsichert. Auch seine Mitbewohner*innen haben jetzt manchmal ein mulmiges Gefühl. Sie haben Angst, es könnte plötzlich und jederzeit wieder passieren, dass jemand seine Sachen packen und einfach so die Wohngruppe verlassen muss. „Als Jugendliche müssten wir doch eigentlich Rechte haben hier in Deutschland“, so Amir M.

Höchst umstrittene medizinische Altersfeststellung

Dabei ist die vom BAMF eingeleitete medizinische Altersfeststellung höchst umstritten. Fachverbände kritisieren seit Längerem, dass Medizin nicht in der Lage sei, Alter genau ‚festzustellen‘. Vielmehr könne nur eine grobe Schätzung mit einer Streubreite von mehreren Jahren vorgenommen werden. Damit bestehe ein erhebliches Risiko, dass Minderjährige durch fehleranfällige Altersdiagnostik fälschlich zu Erwachsenen erklärt werden.

„Selbst wenn die Altersfeststellung vom BAMF richtig gewesen wäre, hätte das Jugendamt dieser nicht blind folgen dürfen. Jugendhilfeunterstützung endet nicht prinzipiell mit der Volljährigkeit. Sie ist stets gekoppelt an die Bedürfnisse der heranwachsenden Person. Das Jugendamt hätte prüfen müssen, ob weiter Bedarf an Betreuung in einer Wohngemeinschaft besteht. Nach der letzten Reform des Jugendhilferechts sind die Rechte junger Volljähriger auf Verlängerung ihrer Unterstützung sogar noch einmal gestärkt worden“ erklärt Ulrike von Wölfel vom Kinder- und Jugendhilferechtsverein e.V., die Amir als Ombudsstelle beraten und bei der Rechtsdurchsetzung unterstützt hat.

So geht es Amir M. heute

Drei Wochen nach seinem Rauswurf konnte Amir M. dank einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts Dresden wieder in seine Wohngemeinschaft zurückkehren. Das Jugendamt hat mittlerweile einen Antrag bewilligt, dass Amir M. bis zu seinem Schulabschluss im Sommer in seinem gewohnten Umfeld bleiben kann. „Ich bin froh, dass ich zurück bei meinen Mitbewohner*innen und Betreuern bin. Aber in der letzten Monaten hatte ich eine schwere Zeit. Ich habe nicht gut geschlafen und ich habe mich oft gefragt, was passiert als nächstes. Muss ich morgen vielleicht auf der Straße schlafen oder nicht. Heute geht es mir besser, aber manchmal habe ich auch ein bisschen Sorgen.“, so Amir M.

Vom Einzelfall zur Struktur

„Es gibt sachsenweit regelmäßig Missstände in der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, wobei die Erfahrung von Amir M. ein besonders bedrückendes Beispiel dafür ist.“, erklärt Paula Moser vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Es ist ein Fall, der im Kleinen große strukturelle Defizite in der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Sachsen aufzeigt.

„Jugendämter sollten eigenständige Altersprüfungen durchführen, denn auf die Prüfung des BAMF ist häufig kein Verlass. Auch dürfen Personen, die volljährig werden oder als solche eingestuft sind, nicht einfach vor die Tür gesetzt werden. Die Betreuung muss bedarfsorientiert passieren. Ganz besonders dann, wenn jemand sich in einem so jungen Alter in einem völlig fremden Land wiederfindet, Sprachkenntnisse und Schulabschluss noch erworben werden und möglicherweise auch negative Erfahrungen der Flucht aufgearbeitet werden müssen. Auch Sachsen muss sich hier an die UN-Kinderrechtskonvention halten“, so Moser.

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