Heute ist der Tag des Flüchtlings, den PRO ASYL 1986 ins Leben gerufen hat. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Text zur aktuellen Situation von Geflüchteten an den Grenzen, in der Gesellschaft und in der öffentlichen Wahrnehmung: “Dem aktuell verbreiteten Narrativ ‘winter is coming’ über Geflüchtete kann nicht nur mit Mitleid und Solidarität begegnet werden. ‘De te fabula narratur’, diese Geschichte handelt von dir – von denen, die darauf bestehen, ihre Menschlichkeit zu bewahren, um nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu schützen.”
von Osman Oğuz (Öffentlichkeitsarbeit Sächsischer Flüchtlingsrat)
Der “Flüchtling” wird immer mehr zu einer Identität. Einerseits werden damit bestimmten Menschen Eigenschaften oder Verhaltensmuster zugeschrieben – das Bild des Flüchtlings scheint sich in den Köpfen immer mehr “normaler” Menschen zu verdichten. Andererseits werden über diese Identität in vielen Ländern auch gesellschaftspolitische Probleme oder Ängste und solcherlei Gefühle verhandelt: Der moderne Flüchtling als Grenzfigur der Gesellschaft, wie ihn Giorgio Agamben1 definierte, nimmt immer greifbarere Gestalt an. Man kennt sie, man erkennt sie, immer mehr, aber niemand will Verantwortung für sie übernehmen.
Agamben spricht von einem “nackten Leben”, dem Leben der Entrechteten: Vogelfreiheit, um es auf Deutsch zu sagen. In seinen Augen wird der Flüchtling von der souveränen Ordnung mit ihren Rechten und ihrem Schutz ausgeschlossen und die Debatte wird über seine “Bekleidung” als Bürger*in geführt. Es wird entschieden, wer (Menschen-)Rechte in Anspruch nehmen kann. Wer von diesem Anspruch ausgeschlossen ist, erfährt nackte Gewalt am nackten Leben. Wer „gepushbackt“ wird, wird aus der Sphäre der Rechte vertrieben. In diesem Sinne wird der Flüchtling zu einem “Menschen der Menschenrechte”2, wie Hannah Arendt, ein Flüchtling ihrer Zeit, es formuliert hat.
Einen Platz auf dieser Welt
Weltweit sind nach UN-Angaben mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht – sei es vor den Folgen der Klimakatastrophe, vor Kriegen oder vor der Schwächung der Wirtschaft und der damit verbundenen Perspektivlosigkeit. Menschen, die umherirren auf der Suche nach einem Platz auf der Erde. Ein Bekannter aus Syrien, der einen langen Weg hinter sich hatte, erzählte von seinem ersten Blick, nachdem er das Mittelmeer überquert und die Zielinsel erreicht hatte: “Ich wandte mich dem Meer zu und dachte: Diese Welt ist so groß und so schön, aber für mich scheint nicht einmal ein kleiner Platz auf ihr zu sein.”
Was bedeutet es, einen kleinen Platz auf dieser Welt zu haben? Wann wird ein Ort zum Zuhause? Diese Fragen werden komplizierter, wenn es um Geflüchtete geht. Betrachtet man die aktuellen Debatten um die Anwerbung migrantischer Fachkräfte einerseits und die „Eindämmung“ der Fluchtmigration andererseits, so kommt man schnell zu dem Schluss, dass dieser Platz durch einen Nachweis der Verwertbarkeit gewährt werden will. Der Flüchtling leidet nicht darunter, dass er unterdrückt wird, stellt Hannah Arendt fest: “Ihr Zustand ist nicht zu definieren mit Ungleichheit vor dem Gesetz, da es für sie überhaupt kein Gesetz gibt; nicht daß sie unterdrückt sind, kennzeichnet sie, sondern daß niemand sie auch nur zu unterdrücken wünscht.”
Der Flüchtling wird von den Faschisten unserer Zeit als Identität behandelt, auch um ihre eigene Identität zu begründen. Doch die Identität des Flüchtlings passt nicht in das bunte Spektrum moderner Identitäten: Niemand will sie freiwillig annehmen und von ihr aus eine Geschichte erzählen. Das liegt zum einen in der Natur der Sache, denn niemand flieht freiwillig und die Flucht hat immer einen Grund, der nicht schön ist. Zum anderen lebt der Flüchtling dort, wo kein Mensch hin will: Im Niemandsland, auf der Suche nach Fesseln – einem Ort, an dem er überhaupt unterdrückt werden will. Es scheint unheimlich schwer, aus ihm ein politisches Subjekt zu machen. In seiner Orientierungs- und Sprachlosigkeit wird er zur Zielscheibe faschistisch/populistischer Heilsversprechen, zum schwächsten Glied der Menschheit.
Erzählte und erlebte Realitäten
“Für abgelehnte Asylbewerber wird es in Bayern bald kein Geld mehr geben, sondern eine Chipkarte” verkündet der bayerische Ministerpräsident Markus Söder vollmundig und fügt hinzu: “Bayern legt gerade ein großes Programm auf, damit Asylbewerber bis zur Entscheidung über ihren Aufenthaltsstatus verstärkt gemeinnützige Arbeiten übernehmen können. Da geht es um Arbeit in Bauhöfen, Parks reinigen oder Bäume pflanzen. Das sollte überall in Deutschland gemacht werden.”
Warum diese Menschen nicht einfach arbeiten dürfen und eventuell bei der Arbeitssuche unterstützt werden, bleibt unbeantwortet. Möglicherweise redet Söder seinen Bürger*innen, die den Geflüchteten Faulheit und Missbrauch des Sozialsystems vorwerfen, ins Gewissen und sagt ihnen übersetzt: “Keine Sorge, ich schick’ die mit einem Besen in den Park!”
Ein Flüchtling, der mit seiner Familie seit fünf Jahren in einer Unterkunft auf dem sächsischen Land lebt und uns in seiner Langeweile bei sich zu Hause empfängt, räumt den Verdacht, dessen Existenz er bei jeder Begegnung für möglich zu halten scheint, zunächst vorschnell aus: “Ich will eigentlich arbeiten, ich bin nicht faul, aber ich darf nicht arbeiten.” Er lebt mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern zusammen und erzählt, dass sie seit ihrer Ankunft nur einmal Berlin und einmal Leipzig wegen (dank?) ihrer bürokratischen Angelegenheiten gesehen hätten, ansonsten aber immer in dieser kleinen Stadt auf dem Land geblieben seien. Deutschland bestand für sie im Wesentlichen aus ihrer kleinen Wohnung in einer Plattenbausiedlung und einer sächsischen Kleinstadt, nachdem sie aus Nigeria mehrere tausend Kilometer zurückgelegt hatten.
Hier treffen zwei Realitäten aufeinander: die erzählte Realität von Markus Söder, nach der die Geflüchteten die Ursache für bestimmte Missstände sind, seien sie wirtschaftlicher, bildungspolitischer oder krimineller Natur – und die erlebte Realität der nigerianischen Familie, deren Leben letztlich von der deutschen Bürokratie zum Überleben gemacht wird. Welche Realität zählt? Wessen Erzählung ist wahr? Wem soll zugehört werden? Entscheidende Fragen.
Epochaler Kampf gegen selbstgebaute Boote
Mehrere tausend Geflüchtete sind vor gut zwei Wochen auf Lampedusa angekommen: Eine “Invasion”, wie Rechtspopulist*innen skandieren. Noch gibt es auch solidarische Stimmen, doch sie finden kaum noch Gehör. Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin, verkündet daraufhin den “epochalen Kampf für Italien und für Europa gegen die Masseneinwanderung” und die entsprechenden “außerordentlichen Maßnahmen” wie die Einrichtung spezieller Abschiebelager durch das Militär in “abgelegenen und möglichst dünn besiedelten Gebieten”, um “weitere Unannehmlichkeiten und Unsicherheiten in den italienischen Städten” zu vermeiden.
Gleichzeitig reichen 40 Überlebende der Schiffskatastrophe vor der griechischen Küstenstadt Pylos, bei dem vor drei Monaten mehr als 600 Menschen ums Leben kamen, eine gemeinsame Beschwerde ein, weil der Fall bis heute nicht rechtsstaatlich untersucht wurde. Recherchen, Zeugenaussagen und eine Chronik weisen eindeutig darauf hin, dass die Katastrophe durch die Manöver im Zuge einer gezielten Pushback-Politik verursacht wurde und hätte verhindert werden können, wenn der Wille dazu vorhanden gewesen wäre. Die Toten bleiben namenlos, ihre Zahl ungewiss, ihr Schicksal dem Rechtsstaat gleichgültig – sterben und verschwinden im Mittelmeer, das riskieren viele der Geflüchteten.
In der Sächsischen Zeitung kommentiert der Migrationsforscher Koopmans unter einem Foto von Geflüchteten, die gerade auf einem verrosteten und überfüllten Boot den Hafen von Lampedusa erreicht haben, die steigenden Zahlen der Geflüchteten – vielleicht wie auf seinem Foto mit beiden Händen eine Raute formend: “Offenbar gibt es derzeit einen Konkurrenzkampf zwischen mehreren Schleppergruppen. In diesem kriminellen Geschäft scheint es derzeit einen Preiskampf zu geben. Die Preise, die die Schlepper für die Überfahrten verlangen, sinken derzeit. Dadurch können sich mehr Menschen eine Überfahrt leisten.”
Sie greifen also “derzeit” auf das Angebot zurück, erklärt der Migrationsforscher und bedauert, dass trotz der Notwendigkeit, den “Zustrom an den Außengrenzen” zu kontrollieren, das Memorandum of Understanding zwischen der EU und dem tunesischen Staatschef Kais Saied nicht funktioniert – einem Staatschef, der Geflüchtete ohne Wasser in der Wüste aussetzte und vor wenigen Tagen den Sturm Daniel, der in Libyen katastrophale Zustände verursachte, mit einer antisemitischen Verschwörungserzählung begründete.
Fiktion der Nichteinreise
Zurück zum nackten Leben: Der zentrale Begriff der noch verhandelten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) lautet “Fiktion der Nichteinreise”. Damit soll gezielt und bewusst eine Grauzone im europäischen Recht geschaffen werden, in der bestimmte (Menschen-)Rechte nicht mehr gelten. Das soll ungefähr so funktionieren: Der Mensch wird auf seinem Fluchtweg nach Europa an den Grenzen abgefangen und in ein Auffanglager gesteckt, das “noch nicht” zum Territorium der Europäischen Union gehört, selbst wenn es sich – sagen wir – im Flughafen einer namhaften europäischen Hauptstadt befände: Die Reise erfolgt nämlich zunächst in die Fiktion der Nichteinreise – also in ein Niemandsland, das nur in den Köpfen der EU-Behörden existiert. Ein Wunder, könnte man sagen – oder die Mauer des Wunderlandes.
Wie diese Mauer funktionieren wird, lässt sich daran ablesen, wie sie bereits funktioniert: Die Reform ist lediglich eine Verrechtlichung des Bestehenden. Schon jetzt werden täglich Menschen an den EU-Außengrenzen “gepushbackt” – ein Wort, das diese im Kern illegale Praxis bereits verharmlosend verkörpert. Pushback bedeutet nichts anderes als die Vertreibung aus dem Menschsein, wenn Menschsein bedeutet, über Rechte zu verfügen. Man kann also sagen, dass wir den Verlust der Menschenrechte selbst auf europäischem Territorium bereits hingenommen haben (oder hinnehmen mussten, wenn es sich lohnt, auf die kollektive Ohnmacht hinzuweisen).
Diese Geschichte handelt von dir
Ein Armenier, ein Kurde und ein Türke dringen in einen Garten ein, um Pflaumen zu stehlen, aber der Besitzer des Gartens kommt ihnen in die Quere.
Zuerst sagt der Gartenbesitzer: „Türken und Kurden sind meine Glaubensbrüder, aber wie kann ein Armenier es wagen, meine Pflaumen zu essen“ und schlägt den Armenier.
Dann wendet er sich dem Kurden zu und sagt: „Dieser Mann und ich haben die gleiche Nationalität, wie kannst du es wagen, meine Pflaumen zu essen“, und schlägt auch ihn.
Schließlich sagt er zum Türken: „Der Garten gehört mir, ich habe ihn angelegt, wie kannst du es wagen, meine Pflaumen zu essen“, und schlägt auch ihn.
Während die drei Freunde mit ihren Wunden da sitzen, wird dem Türken klar: „Wir hätten ihm nicht erlauben dürfen, den Armenier zu schlagen“.
Die biopolitischen Thesen, die in aller Kaltblütigkeit zeigen, wie sich die Legitimierung von Rechtsbrüchen und die Verschiebung von Grenzen (des Sagbaren und des Machbaren) epidemisch ausbreiten, könnten diesen Witz bestätigen, der die Ausbreitung der unbestraften Massengewalt in der Türkei sehr gut illustriert.
Dem aktuell verbreiteten Narrativ „winter is coming“ über Geflüchtete kann nicht nur mit Mitleid und Solidarität begegnet werden. “De te fabula narratur”, diese Geschichte handelt von dir – von denen, die darauf bestehen, ihre Menschlichkeit zu bewahren, um nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu schützen. An der Seite derer zu stehen, die im Mittelmeer sterben und verschwinden, derer, die in Lampedusa festsitzen, derer, die in Deutschland immer stärker sozialpolitisch angefeindet und entrechtet werden, derer, die hinter der Mauer festgehalten/ausgesperrt werden, bedeutet nicht nur, ihre Rechte zu verteidigen, sondern auch unser aller Rechte.
(1) Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph und Essayist. Sein Hauptwerk “Homo Sacer” beschäftigt sich mit dem “Ausnahmezustand” als rechtsfreiem Raum und dem “nackten Leben” der Entrechteten.
(2) zitiert von Giorgio Agamben (“Homo Sacer”): “In diesem Sinn ist er [Flüchtling] tatsächlich, wie Hannah Arendt meint, ‚der Mensch der Menschenrechte‘, dessen erste und einzige reale Erscheinung diesseits der Maske des Bürger, die ihn ständig verdeckt.”