Kampf aus dem Exil – Situation Geflüchteter aus Venezuela in Sachsen

Während die Zahl venezolanischer Asylsuchender in Sachsen so hoch ist wie nie zuvor, fällt ihre Schutzquote im Asylverfahren auf historische Tiefststände. Dass der Freistaat seit 2023 wieder Abschiebungen nach Venezuela durchführt und damit vor der Landtagswahl Entschlossenheit demonstrieren will, verunsichert die hier lebende Exilcommunity zusätzlich. Ein Blick in ein krisengeschütteltes Land, dessen Innenansichten nicht zur behördlichen Ablehnungskultur passen wollen. Von Sebastian Lupke

Seit Jahren im Verfall bei zeitgleich zunehmender Autorität durch die Regierung Maduros: Venzuelas Staatskrise nimmt kein Ende. Foto: Roger Kuzna

Als mehrere Zeitungen kurz vor Neujahr vermeldeten, dass Venezuela auch 2023 wieder auf Platz zwei der Hauptherkunftsländer von Asylsuchenden in Sachsen liegt, übertroffen nur noch von Syrien[1], dürften sich nicht wenige Leser:innen gefragt haben: Wieso das weit entfernte Venezuela? 2023 registrierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 3.756 Asylsuchende aus dem südamerikanischen Land, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr[2]. Mehr als 3.000 von ihnen wurden nach Sachsen zugewiesen, das damit auch weiterhin Hauptaufnahmebundesland bleibt. Doch nur noch jedem fünften Asylantrag wird stattgegeben, vor zwei Jahren lag die Schutzquote noch mehr als doppelt so hoch bei 44 Prozent.

Wie um die BAMF-Position zu untermauern, wonach Venezuela ein offenbar sicheres Land sei, wurde Januar 2023 erstmals seit Jahren wieder eine Abschiebung durchgeführt. Bis Jahresende konnten der Sächsische Flüchtlingsrat und venezolanische Migrant:innenorganisationen acht erfolgte und etwa ebenso viele gescheiterte Abschiebungen dokumentieren, die tatsächliche Zahl dürfte noch etwas höher liegen. Bei mehreren Betroffenen waren noch Rechtsmittel anhängig und das Asylverfahren nicht endgültig abgeschlossen, eine Person hatte zum Zeitpunkt der Abschiebung noch nicht einmal ihren Ablehnungsbescheid postalisch erhalten. Zwei weitere Abschiebungsversuche betrafen schwangere Frauen. Die harte Ablehnungs- und Abschiebungspolitik spielt letztlich dem venezolanischen Machthaber Nicolás Maduro in die Hände, dessen autokratisches Regime bemüht ist, das Land als stabilisiert und im Aufschwung begriffen darzustellen. Doch dieser Schein trügt.

Weiter die Abwärtsspirale hinab

Nach letzten Erhebungen der Plattform HumVenezuela[3] haben etwa 95 Prozent der Landesbevölkerung kein ausreichendes Einkommen, um ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Lebensmittel, Kleidung oder Unterkunft zu befriedigen, drei Viertel leben in extremer Armut. Der Mindestlohn betrug zum Jahresende 2023 umgerechnet 3,51 US-

Extreme Armut, Unterdrückung durch Maduro und Perspektivlosigkeit zwingen viele Menschen im Land zur Migration. Foto: Maca Raibo

Dollar im Monat; um einen menschenwürdigen Lebensstandard („Basis-Warenkorb“) zu sichern, würde eine durchschnittliche venezolanische Familie aber satte 149 monatliche Mindestlöhne benötigen[4]. Unerreichbar selbst für gut ausgebildete Personen, zumal eine Inflation von gegenwärtig 200 Prozent das karge Gehalt schneller auffrisst, als es ausgegeben werden kann[5]. Weiterhin ist das Gesundheitssystem seit langem zusammengebrochen, mehr als 80 Prozent aller Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig, zahlreiche Erkrankungen können nicht mehr behandelt werden und Medikamente sind kaum noch erhältlich[6].

Maduro und die herrschende sozialistische Einheitspartei Venezuelas (PSUV) haben keine Lösung für die ökonomische und humanitäre Abwärtsspirale, entsprechend ihrer Propaganda sind für die Misere wahlweise die US-Sanktionen, „ausländische Agenten“ oder andere „Landesverräter“ Schuld. Wer Kritik übt, muss mit willkürlicher Verfolgung, Verhaftung bis hin zur Tötung rechnen, Proteste wurden zumeist mit brachialer Polizeigewalt niedergeschlagen. Neben den Sicherheitskräften bedient sich die Regierung dafür staatsnaher paramilitärischer Gruppen, den sogenannten „Colectivos“, die in nahezu völliger Straffreiheit die schmutzige Arbeit verrichten. Eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Untersuchungsmission kam zu dem Schluss, dass diese Repression systematisch von höchsten Regierungskreisen organisiert wird[7], vor dem Internationalen Strafgerichtshof laufen daher Ermittlungen gegen Maduro wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit seinem Amtsantritt wurden schätzungsweise knapp 16.000 Personen willkürlich verhaftet[8], insbesondere seit 2023 konnte Amnesty International einen erneuten Anstieg politisch motivierter Inhaftierungen beobachten, oftmals gefolgt von Folter[9]. Betroffen sind etwa politische Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen, Journalist:innen und Lehrer:innen, aber auch Personen, die sich vorher noch nie politisch geäußert oder betätigt haben, sowie Familienangehörige anderer Zielpersonen.

Sobald sich Protestbewegungen im Land formieren, werden sich auch mit Gewalt der Sicherheitskräfte unterdrückt. Foto: Maca Raibo

 

Die traurige Schlussfolgerung ist: Grundsätzlich jede Person kann in Venezuela politisch verfolgt werden. Insbesondere alle Personen, die als Kritiker:innen der Regierungspolitik wahrgenommen werden, sind einem hohen Risiko von willkürlichen Verhaftungen, Folter oder anderen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt[10]. In der Entscheidungspraxis des BAMF schlägt sich diese Analyse jedoch bislang nicht nieder. Dem Autor sind unter anderem die Fälle eines Journalisten, eines Polizisten und eines ehemaligen Staatsanwaltes bekannt, die sich mit dem System Maduro angelegt haben und jeweils verschiedenartigen Bedrohungen und Verfolgungshandlungen ausgesetzt waren. Das BAMF lehnte alle diese Fälle ab und bekannte, die vorgetragenen Einzelheiten seien „nicht glaubwürdig“.

Wahl unter unguten Vorzeichen

Ob die in diesem Jahr anstehende Präsidentschaftswahl eine lang ersehnte Wende bringen kann, bleibt mehr als unsicher, zumal nach wie vor kein offizieller Wahltermin kommuniziert wurde. Aus den Vorwahlen der Oppositionsparteien, den sogenannten „Primarias“, ging im Oktober die konservative Politikerin Maria Corina Machado als eindeutige Siegerin hervor und wird damit gegen Präsident Maduro antreten. Eine freie und faire Wahl würde sie vermutlich haushoch gewinnen, und genau deswegen wird es dazu wohl nicht kommen: Nur wenige Tage nachdem sie ihre Kandidatur verkündete, wurde sie von der Obersten Wahlbehörde aufgrund haltloser Vorwürfe für alle politischen Ämter gesperrt. Gegen mehrere Mitglieder des oppositionellen Vorwahlkomitees wurden prompt Strafverfahren eingeleitet, eines wurde mehrere Tage lang willkürlich verhaftet und festgehalten[11].

Yolanda Forero Soto (2. v.r.) im „Primarias“-Wahlbüro am 22. Oktober in Berlin. Foto: privat

Dass die Vorwahlen trotz Störmanövern erfolgreich über die Bühne gingen, liegt auch an Menschen wie Argelr Vasquéz Hidalgo und Yolanda Forero Soto: Das Ehepaar meldete sich als Wahlhelfer:innen für das Primarias-Wahlbüro in Berlin, dem einzigen der in Deutschland lebenden Exilcommmunity. In Venezuela waren die beiden Oppositionsaktivist:innen ständigen Einschüchterungen, Überwachungen und zuletzt einem Entführungsversuch ausgesetzt, was das BAMF jedoch nicht daran hinderte, ihren Asylantrag als „offensichtlich unzulässig“ abzulehnen. Erst eine Entscheidung vor dem Chemnitzer Verwaltungsgericht brachte die notwendige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, gemeinsam mit ihren Kindern leben Argelr und Yolanda jetzt im sächsischen Flöha. Im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen bleibt Argelr kämpferisch, betont aber auch die Rolle der Weltgemeinschaft: „Internationaler Druck könnte viel dazu beitragen, die Bedingungen für freie, faire und überprüfbare Wahlen zu schaffen. Der erste Schritt wäre, überhaupt einen Wahltermin festzulegen, der nach wie vor ein Rätsel bleibt. Ebenso unklar ist, was mit dem Urteil über die Disqualifizierung von Maria Corina Machado passiert. Die demokratischen Kräfte in Venezuela müssen sich auf verschiedene Szenarien einstellen und diese Gelegenheit ergreifen, um durch die Verteidigung und Ausübung unseres Wahlrechts einen friedlichen und gewaltfreien Abgang von Nicolas Maduro herbeizuführen.“

Rund acht Millionen Menschen, etwa ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung, sind aus Venezuela geflohen. Die überwältigende Mehrheit von ihnen hat verständlicherweise wenig für Maduro übrig und ihre Stimmen könnten letztlich den Ausschlag geben – demzufolge wird es im Interesse der Regierung liegen, die Wahlbeteiligung aus dem Ausland nach Kräften zu behindern oder verhindern. So sind beispielsweise nur wenige der im Exil lebenden Venezolaner:innen bei der Obersten Wahlbehörde CNE registriert und damit wahlberechtigt. Auch Argelr sieht das so: „Ein unparteiischer CNE wäre essenziell, doch der wird wie alle anderen Gremien von der Diktatur kontrolliert. Die Wahlteilnahme aus dem Ausland ist eine große Unbekannte, nicht nur weil es in vielen Gegenden keine Botschaften oder Konsulate gibt, sondern auch aufgrund des aufenthaltsrechtlichen Status vieler Personen und der notwendigen Dokumente wie gültiger Reisepässe oder Personalausweise, ohne die wir nicht wählen dürfen.“ Wie er fürchten nicht wenige, dass die Erneuerung von Dokumenten für Exilvenezolaner:innen verzögert werden könnte.

Gelingt die Wende?

Alexander Saavedra lebt heute in Chemnitz. Foto: privat

Auch Alexander Saavedra beschäftigen die politischen Szenarien seines Heimatlandes. Im Januar 2019, kurz nach der international nicht anerkannten Wiederwahl Maduros, organisierte Alexander als Sprecher einer Student:innenverbindung einen Protest in der Hauptstadt Caracas. In der Nacht darauf stürmte der Geheimdienst SEBIN das Haus seiner Familie und drohte, man werde Alexander töten wenn man ihn finde. Aus einem unguten Bauchgefühl heraus schlief er in dieser Nacht in der Wohnung eines Bekannten, andernfalls hätte er diese Begegnung wohl nicht überlebt. In der heißesten Phase der Proteste Anfang 2019 wurden dutzende Demonstrierende getötet, insbesondere dem SEBIN wird eine Vielzahl solcher Hinrichtungen vorgeworfen. Alexander erklärt: „Mein Hochschulprofessor pflegte zu sagen, ein Szenario in dem eine Diktatur ihren Machtverlust akzeptiert, ist eines, in dem die Kosten des Machterhalts zu groß werden und es gleichzeitig Anreize für einen Ausstieg gibt. Der Klientelismus des Maduro-Systems ist in einem kritischen Moment und die Macht wird zunehmend durch Gewalt aufrechterhalten. Entscheidend ist, die Gruppen, die diese Gewalt innehaben, zu atomisieren und Anreize zu schaffen, damit sie das Regierungsbündnis verlassen.“

Dem BAMF gelang es, auch Alexanders Asylantrag abzulehnen, die aberwitzige Begründung hierfür: Ihm sei ja gar nichts konkret passiert. Anders ausgedrückt, er hätte sich zunächst festnehmen und misshandeln oder direkt erschießen lassen müssen, damit für deutsche Behörden ein Asylgrund vorliegt. Auch in seinem Fall erbrachte erst eine erfolgreiche Klage vor dem Verwaltungsgericht die Gewährung des Flüchtlingsstatus. Inzwischen arbeitet Alexander beim Chemnitzer Verein AGIUA in einem Projekt zur Stärkung politischer und gesellschaftlicher Partizipation von Migrant:innen, eine hohe Wahlbeteiligung der Exilvenezolaner*innen ist ihm deshalb ein zentrales Anliegen. Dass im Falle einer Niederlage Maduros und einem Sieg der Demokratie viele Venezolaner:innen wieder zurückkehren würden, sieht er jedoch skeptisch: „Studien anderer Communities haben gezeigt, dass Migranten eher dazu neigen, sich in ihren neuen Ländern niederzulassen und dort ihr Leben zu entwickeln. Sicherlich wird es einige geben, die sich zur Rückkehr nach Venezuela entschließen, insbesondere diejenigen, die sich in Ländern befinden, in denen ihre wirtschaftliche oder rechtliche Situation prekär ist. Aber diejenigen, die sich bereits eingelebt haben und über eine sichere Perspektive verfügen, werden hier bleiben und haben Deutschland bereits zu ihrer neuen Heimat gemacht.“

Informationsveranstaltung des Flüchtlingsrates und der venezolanischen Community in Chemnitz. Foto: privat

Eine freie und faire Wahl, mit der die Autokratie beseitigt wird, bleibt Wunschvorstellung und zentrales Thema der venezolanischen Community im Jahr 2024. Und angesichts der katastrophalen humanitären und politischen Lage lässt sich erahnen: Selbst wenn die AfD die Landtagswahlen gewänne, könnte man ihnen das Leben in Sachsen nicht so schwer machen, damit sie freiwillig Verelendung und permanente Repression in Venezuela vorziehen würden. Anstatt immer stärker gegen Migrant:innen zu hetzen, sollte gerade die Bevölkerung eines ostdeutschen Bundeslandes erkennen, dass ihnen die Situation in Venezuela – eine allmächtige sozialistische Einheitspartei, politische Gefangene, Mangelwirtschaft und ständige Bespitzelung – doch eigentlich erschreckend bekannt vorkommen muss. Und dass sie, anstelle weitere Abschiebungen zu forcieren, die venezolanische Community nach Kräften unterstützen und dafür die eigenen geschichtlichen Erfahrungen nutzen sollte. Damit auch Venezuela schließlich eine friedliche Wende erfahren darf. Und damit das Land in der Zukunft tatsächlich so sicher wird, wie es das BAMF bereits heute herbei fantasiert.

Sebastian Lupke ist studierter Ökonom, Mitglied in der Länderkoordinationsgruppe Venezuela von Amnesty International Deutschland und ist Mitarbeiter beim Sächsischen Flüchtlingsrat

[1]u.a. Mitteldeutsche Zeitung, 30.12.2023: Zahl der Geflüchteten in Sachsen 2023 stark angestiegen. Link: https://www.mz.de/panorama/zahl-der-gefluchteten-in-sachsen-2023-stark-angestiegen-3757916.

[2]BAMF, 08.01.2024: Asylgeschäftsstatistik. Link: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/Asylgeschaeftsstatistik/hkl-antrags-entscheidungs-bestandsstatistikl-kumuliert-2023.html?nn=284746

[3]HumVenezuela, 2022: Informe de seguimiento a los impactos de la emergencia humanitaria compleja en Venezuela tras el confinamiento por la pandemia de Covid. Link: https://humvenezuela.com/wp-content/uploads/2022/09/HumVenezuela-Informe-Marzo-2022.pdf

[4]Infobae, 21.12.2023: Crisis en Venezuela: Una familia necesitó más de 500  dólares para cubrir la canasta básica de alimentos en noviembre. Link: https://www.infobae.com/venezuela/2023/12/22/crisis-en-venezuela-una-familia-necesito-mas-de-500-dolares-para-cubrir-la-canasta-basica-de-alimentos-en-noviembre/

[5]Internationaler Währungsfonds, 2024: Inflation rate, average consumer prices. Link: https://www.imf.org/external/datamapper/PCPIPCH@WEO/WEOWORLD/VEN

[6]HumVenezuela, 2022, a.a.O.

[7] UN-Menschenrechtskommissar, 20.09.2022: Venezuela: New UN report details responsibilities for crimes against humanity to repress dissent and highlights situation in remotes mining areas. Link: https://www.ohchr.org/en/press-releases/2022/09/venezuela-new-un-report-details-responsibilities-crimes-against-humanity

[8]Foro Penal, 12.04.2023: Reporte sobre la represión en Venezuela, marzo 2023. Link: https://foropenal.com/reporte-sobre-la-represion-en-venezuela-marzo-2023/

[9]Amnesty International, 29.08.2023: Venezuela: Arbitrary detentions continue as a tool of government control and repression. Link: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/08/venezuela-arbitrary-arrests-government-control-repression/; Amnesty International, 22.06.2023: Venezuela: Repunte de detenciones arbitrarias para reprimir. Link: https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/6910/2023/es/

[10]Amnesty International, 19.10.2023: Venezuela: International protection needs of venezuelan nationals. Link: https://www.amnesty.org/en/documents/amr53/7331/2023/en/

[11]Amnesty International, 12.10.2023: Venezuela: Nuevos ataques contra el espacio cívico confirman el anunciado recrudecimiento de la política de represión del gobierno. Link: https://www.amnistia.org/ve/noticias/2023/12/25532/venezuela-nuevos-ataques-contra-el-espacio-civico

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  • roger-kuzna-geLRm0RMRWM-unsplash: Roger Kuzna
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  • venezuela-6828932_1920: Maca Raibo