Zweiter Sondernewsletter des SFR e.V. zu Chemnitz – Überblick

Danke, Anteilnahme und Aufruf. Bevor es in die Schilderung des Geschehenen und des Kommenden geht, wollen wir Danke sagen. Wenn in einer Stadt eine solche Lage herrscht wie in Chemnitz, lässt das niemand kalt, umso weniger die Menschen, die in der Stadt leben. Wir sind verunsichert, die Geflüchteten, die unsere Beratungsstellen aufsuchen, sind verunsichert. Die Absage des Sommerfests verdeutlicht das. Auch unsere Anteilnahme gilt den Hinterbliebenen von Daniel H. Doch der Tod von niemandem rechtfertigt das, was seither geschehen ist. Umso wichtiger ist es, wenn NGOs wie die RAA Opferberatung e.V. beginnen, die ersten Betroffenen rassistisch motivierter Gewalt zu beraten, der Öffentlichkeit erste Zahlen liefern und so ein über die Bilder hinausgehendes Argument vom Ausmaß des Mobs liefern. Umso wichtiger ist es, wenn Bündnisse wie Chemnitz Nazifrei sofort agieren und Gegenveranstaltungen organisieren. Wenn Menschen zu diesen Veranstaltungen auf die Straße gehen und öffentlich zeigen, dass sie Rassismus ablehnen und bereit sind, gegen seine brutalen Auswüchse zu protestieren. Ob das bei einer Demo wie am Samstag oder einem Konzert wie am Montag geschieht, war im Rückblick nahezu egal. Es war ein gutes Gefühl, 48 Stunden nachdem das Zentrum von Chemnitz erneut zu einem Ort wurde, in dem Faschist*innen Macht ausüben konnten, selbige Straßen gefüllt mit Menschen zu sehen, die vielleicht weniger die Demogänger*innen sind, aber dafür umso gewillter, das Leben zu feiern. Wir waren Samstag auf der Straße und haben protestiert – auch dafür, dass Konzerte wie am Montag möglich sind. Am Montag haben wir, Chemnitzer und Dresdner Kolleg*innen des SFR, zwischen all dem Auseinandersetzen mit dem braunen Mob mit 65.000 weiteren auch das Leben gefeiert. Das war gut. Denn Proteste und Konzerte wären nicht mehr möglich, wenn Nazis nicht nur auf der Straße laufen und in den Parlamenten und Stadträten sitzen, sondern auch in den Ministerien oder gar Kanzleien. 

Am Montag waren es noch exakt 363 Tage bis zur Landtagswahl. Lasst uns weiter kämpfen, lasst uns weiter Gesicht zeigen. #wirsindmehr

Besonderer Dank gilt von unserer Seite Krieg und Freitag und seiner Idee, Strichmenschchen gegen Spende für unseren Verein zu zeichnen. Die Aktion läuft immer noch und er zeichnet weiter! Jedes neue ist ein Zeichen gegen Rassismus und zeigt, dass sich Menschen bundesweit gegen den Rechtsruck stellen. Wenn ihr uns und unsere Arbeit auch weiterhin unterstützen wollt, wer Krieg und Freitag von der Arbeit entlasten will, ist gern dazu eingeladen uns auch langfristig über Betterplace zu unterstützen. Wir freuen uns auch über jede weitere kreative Idee und sind immer auf der Suche nach Menschen, die sich bei uns ehrenamtlich engagieren wollen.

Wer sich für unsere Arbeit interessiert, hat die Möglichkeit sich neben unserer Webseite einmal wöchentlich über unseren Newsletter zu landespolitischen Themen und unseren Verein informieren zu lassen. Das Abo, auch vom Pressespiegel zu den wöchentlich relevanten Entwicklungen im Bereich Flicht und Asyl, ist rechts auf der Website möglich.

Das Kommende.

#c0709 Heute geht es weiter. Die Nazis mobilisieren erneut. Zum Gegenprotest ruft Chemnitz Nazifrei auf. „Wir bleiben hier – aktiv und antifaschistisch“ und zwar um 17.30 Uhr an der Brückenstraße, Ecke Theaterstraße. Gemeinsame Anreise ab Dresden: 15.30 Uhr am Hauptbahnhof. Ab Leipzig: Treff um 16 Uhr am Gleis 23, Hauptbahnhof.

#bz0909 / Seebrücke. Auch Bautzen ist immer wieder im Fokus der Faschist*innen, auch dort wurden PoC und Aktivist*innen attackiert. Bei der Aktionswoche gegen das Vergessen „Gemeinsam statt Einsam“ soll an die Ausschreitungen von vor zwei Jahren erinnert werden. Unter anderm wird zur die Aktionswoche einleitenden Seebrücken-Demo mitsamt eines Mahngangs für Sonntag, 09. September aufgerufen. Ungeachtet des tobenden Mobs sterben nach wie vor Menschen im Mittelmeer. Das gilt es nicht zu vergessen. Treff ist 15 Uhr auf dem Kornmarkt. Mehr Infos hier.

Das Geschehene.

#c0109 Für Herz statt Hetze demonstrierten am Samstag 4.000 Menschen. Erfolgreich konnte die Demoroute der AfD blockiert werden. Sie hielten am Kar-Marx-Monument und mussten sich dort auflösen. Was schon immer klar war, was dort aber letztlich für alle deutlich wurde, die nicht auf dem rechten Auge blind sind: AfD, Pegida und Pro Chemnitz vereinten sich dort, die AfD gibt sich keine Mühe mehr, ihr menschenverachtendes Gedankengut in eine bürgerliche Fassade zu hüllen.

Zur Arbeit der Polizei: während Herz statt Hetze mit Zäunen und einer Vielzahl von Polizeiwagen abgesichert wurde, kann das nicht für die Auftaktkundgebung der AfD gesagt werden. Der Nazi-Mob konnte unbehelligt durch die Straßen ziehen und People of Color, Gegendemonstrant*innen und Journalist*innen jagen. Während 200 bis 300 Antifaschist*innen auf dem Johannisplatz gekesselt wurden, zogen Gruppen in einer Stärke von bis zu zehn Nazis durch die Stadt, rennend. Kein*e Polizist*in verfolgte sie. Die Konsequenz: laut der RAA insgesamt 18 Angriffe allein am Samstag, davon elf Körperverletzungen und sieben Bedrohungen/ Nötigungen. Die Dunkelziffer, so die NGO, wird höher sein. Zum Kessel, den unter anderem Demo-Sanitäter*innen betreten, mit den Verletzten aber nicht wieder verlassen durften, hat Juliane Nagel, MdL für DIE LINKE, eine Anfrage im Landtag eingereicht. Berichterstattung zum Kessel vom neuen deutschland hier.

#c0309 65.000! Der Worte genug gesagt sind oben. Nur der Wunsch von Rola Saleh von Jugendliche ohne Grenzen sei wiederholt: „Ich wünsche mir, dass die Solidarität über den heutigen Tag anhält. Bundesweit!“ Und das beispielsweise bei der We’ll Come United am 29. September in Hamburg!

Dennoch, es gab ein wenig Trubel um diese Veranstaltung, denn die Tausende, die dort gegen Nazis feierten, waren auf einem Konzert, das im Vorfeld als linksradikal und verfassungsfeindlich bezeichnet wurde. Den Diss nicht einmal gepeilt hatten die Leute von K.I.Z. und Monchi von Feine Sahne, der doch nur meinte, jetzt wäre hier Tango, der hatte die seltene Ehre, von Julian Reichelt, Chefredakteur der BILD-„Zeitung“ unterstellt zu bekommen, er hätte den Hitlergruß gezeigt. Das Ganze mit einem Foto, wo selbst Laien die Pixel an der Hand sehen. Seinen journalistischen Tiefpunkt erreichte Reichelt, als er die Frage hinterherschob, ob jemand helfen könne, die Authentizität des Fotos zu überprüfen. Die Polizei Sachsen machte hier ihren Job und meldete via Twitter, bei dem Foto handele es sich wohl um einen Fake. Nun muss sich Julian Reichelt mit der von Jan Böhmermann aufgeworfenen Frage konfrontiert sehen, warum er möglicherweise mit eingenässter Hose in den 90er Jahren den Hitlergruß gezeigt hat, siehe hier (Achtung, Bild von kleinen Kindern fernhalten!). Auch wir sind sehr an Wahrheitsfindung interessiert und fragen uns, ob es sich um eine Fälschung handelt. „Wer kann helfen?“

Angriffe.

Insgesamt zählt die RAA Opferberatung Sachsen e.V. 23 Körperverletzungen und elf Fälle von Bedrohungen und Nötigungen seit Sonntag dem 26. August. Acht Angriffe waren rassistisch motiviert, 26 galten politischen Gegner*innen. Wie sich später herausstellte, kam es am Montag auch zu einem Angriff auf das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz. Der Inhaber wurde verletzt. Die RAA ruft dazu auf, weitere Angriffe zu melden. Die NGO geht davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher liegt. Diese Zahlen aus der ersten Bilanz gelten allein für Chemnitz. In einer gemeinsamen PM listet der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt die weiteren Angriffe auf, die dort bundesweit als Reaktion auf Chemnitz gewertet werden. Ein kurzer Auszug: in NRW wurde am 29. August ein 17-jähriger Mensch syrischer Staatsbürgerschaft angegriffen und im Gesicht verletzt, am selben Tag wurde ein 19-jähriger Mensch eritreischer Staatsbürgerschaft von seinem Nachbarn mit einem Messer bedroht und gejagt, in Thüringen, ebenso am 29., wurde ein 33-jähriger eritreischer Staatsbürgerschaft schwer verletzt, in Dresden stellte am 30. August ein Mensch eritreischer Staatsbürgerschaft drei Einschusslöcher am Fenster seiner Wohnung fest (Anfrage von Jule Nagel im Landtag dazu hier). „Organisierte Rassist*innen und Neonazis begreifen die Parole „holen wir uns unser Land zurück“, mit der am Sonntag, den 26. August 2018 für die rassistische Hetzjagd in Chemnitz mobilisiert wurde, die unzureichende Strafverfolgung und die nachfolgenden Mobilisierungen in Chemnitz als Aufforderung, in Sachsen und bundesweit zuzuschlagen.“ so der Verband.

Die Zahlen der sächsischen Polizei zu den Angriffen der vergangenen Tage werden derzeit von Jule Nagel im Landtag abgefragt, siehe hier.

Auf Anfrage des SFR erklärte das Sächsische Staatsministerium des Inneren, dass das Landesamt für Verfassungsschutz derzeit keine konkreten Erkenntnisse über gezielte Aktivitäten von Rechtsradikalen gegen zivilgesellschaftliche Einrichtungen habe. 

Reaktionen.

„Es gab keinen Mob, es gab keine Hetzjagden.“ so realititätsfern kommentierte Ministerpräsident Michael Kretschmer das Geschehen in Chemnitz bei seiner am Mittwoch gehaltenen Regierungserklärung im Landtag. Scharfe Kritik kam von Grünen und Linken, auch Martin Dulig, stellvertretender Ministerpräsident der SPD widersprach: Menschen seien durch die Stadt getrieben worden, „das ist passiert, das ist real.“ In einer PM kommentierten wir, dass wenn „Michael Kretschmer der Überzeugung ist, dass Nazis die größte Bedrohung für die Demokratie sind, er die richtig die Lektion aus Nazi-Deutschland und Holocaust wiedergibt. Es gab einen Mob, es gab Hetzjagden.“ Eine konkrete Strategie fehlt, ein Anfang wäre es, die Kürzungen in der Jugendarbeit zu korrigieren, forderten wir. Die gesamte Landtagsdebatte zu Chemnitz hier

Dazu: am Sonntag dem 26. August ist Rola Saleh in der Chemnitzer Innenstadt unterwegs. Als der Mob durch die Straßen zieht, skandiert und zu jagen beginnt, stellt sie sich auf die Straße und ruft immer wieder „Rassisten!“ Der Journalist Johannes Grunert hat das Video getweetet, siehe hier. Eindeutig ist dort zu hören, wie ein Polizist Frau Saleh sagt, es würde nichts bringen, wenn der Mob sie angreife. Er schickt sie weg. Ein Beamter hatte auf der Straße, als er das erste Mal begann zu wüten, das erkannt, was der Ministerpräsident nicht sehen will: den Mob.

Am vergangen Freitag besuchte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey die Stadt Chemnitz. Explizit traf sie sich nicht mit den sogenannten „Besorgten“, die wie keine andere gesellschaftliche Gruppe seit Jahren „verhätschelt und getätschelt“ wurden (so Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen bei Maybritt Illner). Sie traf sich mit Vertreter*innen der Stadt, der Zivilgesellschaft und sprach mit Betroffenen von Rassismus.

Bereits am 29. August hatte Petra Zais, Stadträtin in Chemnitz und MdL für Bündnis 90/ Die Grünen, phänomenal Michael Kohlhammer, Mitglied der rechtsradikalen Partei Pro Chemnitz, im Stadtrat gekontert. „Sie haben Ihr Bild von dieser Stadt entworfen. Sie haben gesagt, dass die Hetzjadgen vom Sonntag ein Vorgeschmack sein werden auf das was noch kommen wird in dieser Stadt. Sie haben gesagt, dass Sie von Geflüchteten bedingungslose Unterwerfung unter unsere Regeln fordern. […] Sie wollen eine Stadt in der Gewalt und Rechtsbruch, Zwietracht und Hass dominieren, in der Sie die Regeln machen. Ihnen geht es nicht um das Opfer. […] Unser Recht kennt keine Lynchjustiz, es kennt auch keine Rache. […] Es gibt die Zeit der Trauer […] und es gibt die Zeit des Widerstands gegen die, die die Trauer missbrauchen. […] Wir wollen eine Stadt, in der Herz dominiert.“ Großes Rhetorik-Kino ab Minute 37:53. 

Während die Kanzlerin deutlich machte, dass auch sie die Geschehnisse in Chemnitz verurteilt und Hetzjadgen nicht hinzunehmen seien, äußerte ihr Bundesinnenminister Verständnis für die Nazis, die protestierten und wählte erneut eine Sprache, die erschauern lässt. Vor allem wegen seines mit 69 Jahren immer noch nicht gelösten Mutterkomplexes. Der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen schließt sich Ministerpräsident Kretschmer an und leugnet, was hunderte gesehen haben: dass es überhaupt Hetzjagden gab. 

SFR in der Presse.

Wie kann ein Anwalt tagsüber Geflüchtete verteidigen und abends gegen sie hetzen, als Mitglied der rechtsradikalen Partei Pro Chemnitz? Martin Kohlmann kann das. Er wird bei report Main in den Fokus genommen. Auch wir wurden bereits vor ihm gewarnt, sagt dort Dave Schmidtke vom Sächsischen Flüchtlingsrat. Der Verein Tolstoi e.V. hat Probleme, sich von Kohlmann zu distanzieren, eines seiner Mitglieder half dem Anwalt mindestens in der Vergangenheit bei der Vermittlung neuer Mandant*innen.

Thomas Hoffmann vom SFR äußerte noch am Montag die Hoffnung, dass die Stimmen derer, die seit Langem vor dem Tag X gewarnt hatten, nun endlich Gehör finden würden. Da ahnten wir bisher nur von der Blindheit eines Michael Kretschmers und hofften auf eine andere Bewertung seinerseits. Pessisimistsch blickt Hoffmann in Richtung Landtagswahl. Denn, auch das bestätigte die Regierungserklärung, ein überzeugendes Vorgehen gegen Rechts ist bisher nicht erkennbar. Bericht der Berliner Zeitung.

Neben dem erneuten Ausbau der Jugendarbeit wäre es eine Möglichkeit gewesen, und sie besteht immer noch, sich mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft zusammenzusetzen und gemeinsam zu überlegen, wie gegen Nazis vorgegangen werden könnte. Nun sei der Punkt erreicht, wo eine „Hemmschwelle überschritten“ worden sei, so Hoffmann im neuen deutschland.

Zum Schluss nochmal Feine Sahne: „Wir bilden Ketten. Solange es brennt.“ Stay alert, Alerta, Augen auf. Werdet aktiv!

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