Vor sechs Monaten sind die Taliban in Afghanistan an die Macht gekommen. Zeit für eine bittere Bilanz: Das Leid der Menschen ist weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Massive Verletzungen der Menschenrechte durch die Taliban sind dokumentiert. Viele Zehntausende Menschen, die einen Bezug zu Deutschland haben oder für eine liberale Demokratie eingetreten sind, fürchten um ihr Leben, die Situation in Afghanistan spitzt sich täglich weiter zu. Die versprochene Aufnahme von Verfolgten stockt. Immer noch harren Zehntausende ohne Aufnahmezusage aus oder sitzen in Afghanistan oder Nachbarstaaten fest. Die alte Bundesregierung hat sie kläglich im Stich gelassen. Die Umsetzung der von neuer Regierung versprochenen Ausweitung der Aufnahme ist noch nicht in Sicht.
PRO ASYL, Kabul Luftbrücke und das Patenschaftsnetzwerk afghanische Ortskräfte haben deshalb gemeinsam den Zehn-Punkte-Plan „Vergesst Afghanistan nicht, handelt jetzt“ entwickelt. Die 10 Vorschläge müssen und können schnell umgesetzt werden. Dazu gehört, bei Menschen, denen die Aufnahme zugesagt wurde, auf bürokratische Visaverfahren zu verzichten und erst bei Einreise ins Staatsgebiet an deutschen Flughäfen ein Visum zu erteilen (Visa on Arrival).
„Die Bundesregierung muss zu ihrer Verantwortung stehen und Verfolgte retten. Dies gilt ganz besonders für Afghan*innen, die für deutsche Ministerien und Institutionen tätig waren und solche, die sich als Journalist*innen, Anwält*innen oder Menschenrechtsaktivist*innen für Demokratie und Menschenrechte stark gemacht haben ob mit oder ohne Bezug zu Deutschland“, fordern die Organisationen. In ihrem Zehn-Punkte Plan zeigen die Organisationen Direktflüge aus Kabul nach Deutschland mit Visaerteilung auf den deutschen Flughäfen als Lösung.
Auch der zum Erliegen gekommene Familiennachzug zu in Deutschland lebenden Flüchtlingen kann und muss durch Visa on Arrival beschleunigt werden. „Mehr als 6000 Anträge auf Familienzusammenführung wurden oft jahrelang nicht einmal gestellt, geschweige denn bearbeitet. Das ist unerträglich, dies kann und muss sofort durch Direktflüge nach Deutschland gelöst werden“, fordert PRO ASYL Geschäftsführer Burkhardt.
„Deutschland muss jetzt ein Bundesaufnahmeprogramm beschließen, um die Evakuierung von gefährdeten Personen aus Afghanistan zu ermöglichen. Allein die Organisation Kabul Luftbrücke steht derzeit mit über 35.000 Menschen in Afghanistan in Kontakt, die dringend evakuiert werden müssen. Das versprochene Bundesaufnahmeprogram muss diesen Bedarf abdecken”, fordert Tareq Alaows für die Organisation Kabul Luftbrücke. Hinzu kommen viele Tausend Menschen, die sich bei anderen Organisationen oder direkt beim Auswärtigen Amt gemeldet haben. PRO ASYL und Kabul Luftbücke fordern das Auswärtige Amt auf, offen zu legen, wie viele Emails mit Anträgen auf Schutz seit dem 15.8.2021 eingegangen sind und wie viele noch in der Bearbeitung sind.
Die Organisationen warnen deshalb gemeinsam: „Ein engherziges beispielsweise auf eine vierstellige oder niedrige fünfstellige Zahl begrenztes Programm ist absolut nicht ausreichend. Dem Auswärtigen Amt wurden im vergangenen Sommer viele Zehntausend gefährdete Personen gemeldet. Die Anträge der Betroffenen auf Schutz wurden vielfach ministeriell nicht bearbeitet. Nur ein Bruchteil wurde für die sogenannte Menschenrechtsliste berücksichtigt“.
PRO ASYL Geschäftsführer Burkhardt appellierte an das AA und das Bundesinnenministerium, sofort zu handeln und endlich die vorhandenen Möglichkeiten unabhängig von einem Bundesprogramm sofort zu nutzen. „Es darf keine weitere Zeit mit Verhandlungen zwischen den beteiligten Ministerien, verloren werden. Die alte Regierung wollte nicht, die neue muss parallel zur Entwicklung eines Aufnahmeprogramms die bestehenden Instrumente sofort großzügig und schnell nutzen. Sonst sind die tot, die mit einem Bundesaufnahmeprogramm gerettet werden sollen. Dazu gehört Fall für Fall endlich zügig zu bearbeiten und positiv zu bescheiden.“
In ihrem Zehn-Punkte Plan fordern die Organisationen die sofortige Reform des Ortskräfteverfahrens: Ortskräfte die bisher aufgrund von bürokratischen Hürden – zum Beispiel vor 2013 beschäftigt oder angeblich nicht zeitgerecht eingereichter Gefährdungsanzeigen – ausgeschlossen sind, müssen endlich unter Schutz gestellt werden. Auch Afghan*innen, die als Subunternehmer*innen für deutsche Organisationen tätig waren oder in Projekten gearbeitet haben, die von deutschen Institutionen und Organisationen finanziert wurden, müssen als Ortskräfte anerkannt werden und eine Aufnahmezusage erhalten.
Besonders wichtig ist den Organisationen außerdem die Wiederöffnung der Menschenrechtsliste des Auswärtigen Amts. „Egal ob Richter, Politiker, Frauenrechtsaktivistin oder Sportlerin: In Afghanistan sind Tausende von Vertretern und Vertreterinnen eines liberalen Afghanistans in Gefahr – mit und ohne Bezug zu Deutschland. Wir dürfen sie nicht im Stich lassen“ warnt Burkhardt. “Wir dürfen die Menschen, die für ein liberales Afghanistan tagtäglich eingestanden sind, nicht vergessen. Alle, die nicht dem Weltbild der Taliban entsprechen, müssen um ihr Leben fürchten. Sie müssen gerettet werden, egal ob sie einen direkten Bezug zu Deutschland haben oder nicht“, fordert Alaows.
Wir haben deshalb zehn konkrete Vorschläge entwickelt, wie die Bundesregierung gefährdeten Afghan*innen jetzt helfen kann. Die Bedrohungslage der Menschen in Afghanistan muss handlungsleitend sein. Wir fordern ein schnelles und entschiedenes Handeln.
1. Direkte Evakuierungen aus Afghanistan
Evakuierungsflüge direkt aus Afghanistan nach Deutschland müssen mit Priorität verhandelt werden. Wir brauchen eine doppelte Luftbrücke: Auf dem Hinflug sollten die Flugzeuge humanitäre Hilfsgüter liefern, auf dem Rückflug bedrohte Menschen mitnehmen und in Sicherheit bringen. Für Menschen mit Aufnahmezusage müssen in Deutschland Visa on Arrival erteilt werden. Die für ihre Einreise notwendige Sicherheitsprüfung kann und muss angesichts der Verfolgungslage in Deutschland stattfinden. Das Bundesinnenministerium muss die bei der Vorgängerregierung entwickelte Abwehrhaltung aufgeben
2. Abbau bürokratischer Hindernisse in den Nachbarländern: In den direkten Nachbarländern Afghanistans muss lagebezogen eine schnelle und bedarfsorientierte Verstärkung der Botschaften erfolgen. Wir fordern darüber hinaus das Auswärtige Amt auf, die sogenannte Globalzuständigkeit der deutschen Botschaften grundsätzlich in allen Staaten zu erklären, um weitere Möglichkeiten der Rettung zu schaffen – auch wenn die Schutzsuchenden keinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Land haben. Das Außenministerium muss verstärkt in Verhandlungen mit den Nachbarländern Afghanistans treten, um bürokratische Hindernisse abzubauen und die Einreise nach Deutschland, auch von Schutzsuchenden ohne ausreichende Passdokumente, zu ermöglichen.
3. Einhaltung von Aufnahmezusagen: Die erteilten Aufnahmezusagen sind Verwaltungsakte der Bundesregierung und müssen eingehalten werden. Das bisherige Aufnahmeverfahren zeichnet sich durch große Intransparenz und an vielen Stellen durch mangelnde Unterstützung der Betroffenen aus. Sie brauchen Rechtssicherheit über den Wert der Zusage. Erteilte Zusagen dürfen nicht wieder aufgehoben werden, weil nunmehr wieder die Auffassung vertreten wird, volljährige Kinder seien nicht schutzbedürftig. Wir fordern zudem eine aktive Unterstützung bei der Ausreise nach Deutschland.
4. Öffnung der Menschenrechtsliste: Die Liste für bedrohte Menschenrechtsverteidiger*innen, auf der sich diese für eine mögliche Aufnahme in Deutschland registrieren konnten, wurde abrupt, ohne Ankündigung und völlig willkürlich zu Ende August vergangenen Jahres geschlossen. Selbst wenn Menschen, die eine Aufnahmezusage für Deutschland erhalten haben, in anderen Staaten Schutz gefunden haben, wurden die so freigewordenen Plätze bisher nicht neu vergeben. Deutsche Verantwortung in Afghanistan darf nicht an Arbeitsverträgen festgemacht werden. Jene, die sich an unserem Wertesystem orientiert haben wie etwa Juristinnen, Journalisten und Parlamentarierinnen, dürfen nicht weniger Chancen auf eine Aufnahmezusage haben als jemand, der für ein deutsches Unternehmen gearbeitet hat. Deutschland hat den Afghanistaneinsatz auch immer wieder damit begründet, dort ein bestimmtes Rechts- und Wertesystem zu etablieren. Die Menschen, die sich daran orientiert haben, haben ebenso wie Ortskräfte ein Recht darauf, eine Aufnahmezusage zu erhalten.
Das Auswärtige Amt muss unverzüglich wieder Anträge für die Menschenrechtsliste entgegennehmen, kontinuierlich bearbeiten und dem Bundesinnenministerium Fall für Fall zur Zustimmung vorlegen. Wir fordern: Die Menschenrechtsliste muss geöffnet werden.
5. Nutzung bereits etablierter Aufnahmemöglichkeiten: Unverändert gibt es unabhängig von einem Bundesaufnahmeprogramm oder einer Wiederöffnung der Menschenrechtsliste die Möglichkeit, in Einzelfällen eine Aufnahme nach § 22 Satz 2 AufenthG aus dringenden humanitären Gründen zu beantragen. Wir fordern, dass dieser vorhandene Mechanismus weiter genutzt wird. Eine zeitnahe Bearbeitung für herausragende Fälle muss sichergestellt werden. Wir fordern das Auswärtige Amt auf, eine kontinuierliche Prüfung von Einzelfällen sicherzustellen und positiv entschiedene Fälle dem Bundesinnenministerium zur Zustimmung vorlegen.
6. Reform Ortskräfteverfahren: Die im Koalitionsvertrag versprochene Reform des Ortskräfteverfahrens eilt. Ortskräfte die bisher aufgrund von bürokratischen Hürden (vor 2013 beschäftigt oder angeblich nicht zeitgerecht eingereichte Gefährdungsanzeigen) ausgeschlossen sind, müssen endlich unter Schutz gestellt werden. Auch Afghan*innen, die als Subunternehmer*innen für deutsche Organisationen tätig waren oder in Projekten gearbeitet haben, die von deutschen Institutionen und Organisationen finanziert wurden, müssen als Ortskräfte anerkannt werden und eine Aufnahmezusage erhalten. Dazu zählen beispielsweise die rund 3000 Mitarbeiter*innen des GIZ-Polizeikooperationsprojekts (PCP). Ihre Verfolgung darf nicht bagatellisiert werden. Zudem müssen auch bereits volljährige Kinder von ehemaligen Ortskräften bei der Aufnahme berücksichtigt werden. Bei Aufnahmezusagen müssen auch Personen über die Kernfamilie hinaus berücksichtigt werden: Sämtlichen einem Haushalt zuzurechnenden sowie alle bedrohten Personen der Familie ist die Aufnahme zu gewähren.
7. Familiennachzug beschleunigen: Der Familiennachzug zu in Deutschland Lebenden muss zügig gewährleistet werden. Die Stellung eines Antrages muss auch per Fax oder Mail möglich sein. Im Auswärtigen Amt und in dessen Abteilungen in Deutschland – und nicht nur in den überlasteten Botschaften in Afghanistans Nachbarländern – müssen deshalb die Visaanträge für Familienangehörige von hier lebenden Geflüchteten gestellt und bearbeitet werden. Der Bearbeitungsprozess muss beschleunigt werden, zum Beispiel durch Vorabzustimmungen der lokalen Ausländerbehörden. Das Bundesinnenministerium und die Länderinnenminister müssen auf die Ausländerbehörden einwirken, damit dieses Instrument der Beschleunigung genutzt wird. Für die Visa-Antragstellung sollte darüber hinaus die persönliche Vorsprache nicht länger erforderlich sein. Auch muss es Visa on Arrival geben. In Deutschland liegen in zahlreichen Fällen Informationen über die Identität der Familienangehörigen vor. Die Asylverfahren von Afghanen müssen beschleunigt positiv bearbeitet werden, da sonst kein Familiennachzug möglich ist.
8. Keine Begrenzung des humanitären Einreiseprogramms: Über das humanitäre Aufnahmeprogramm des Bundes müssen bedrohte Afghan*innen verstärkt einreisen können. Ein engherziges beispielsweise auf eine vierstellige oder niedrige fünfstellige Zahl begrenztes Programm ist absolut nicht ausreichend. Dem Auswärtigen Amt wurden im vergangenen Sommer viele tausend gefährdete Personen gemeldet. Bei Nichtregierungsorganisationen liegen zehntausende von Emails vor, die Anträge der Betroffene auf Schutz wurden vielfach ministeriell nicht bearbeitet. Nur ein Bruchteil wurde für die sogenannte Menschenrechtsliste berücksichtigt. Die bereits gemeldeten Personen, die bisher keine Aufnahmezusage erhalten haben, sollten vom Auswärtigen Amt geprüft und für ein Bundesaufnahmeprogramm vorgeschlagen werden, ohne dass es einer erneuten Meldung bedarf.
9. Anerkennung von Aufnahmeprogrammen der Bundesländer: Das Bundesinnenministerium sollte humanitäre Aufnahmeprogramme der Länder anerkennen, ähnlich wie in der Vergangenheit im Falle von Syrer*innen. Die Bundesländer könnten besonders bei bestehenden familiären Bindungen tätig werden. Denn für Familienangehörige mit Bezügen zu Deutschland, die nicht die strengen Kriterien für einen Familiennachzug erfüllen, müssen Lösungen gefunden werden, die derzeit an der engen Auslegung des Aufenthaltsgesetzes scheitern. Der Nachzug der sonstigen Familienangehörigen, der eine außergewöhnliche Härte voraussetzt, wird äußerst restriktiv ausgelegt. Bisher wird die lebensbedrohliche Situation in Afghanistan in der Regel nicht berücksichtigt. Dies betrifft auch Afghan*innen, die bislang nur mit einer Duldung in Deutschland leben und deshalb vom Familiennachzug ausgeschlossen sind. Es muss zudem sichergestellt werden, dass der Ehegattennachzug nicht am Spracherwerb in Afghanistan scheitert. Auf den Nachweis von Spracherfordernissen muss generell beim Ehegattennachzug aus Afghanistan verzichtet werden.
10. UN-Resettlement-Programm stärken: Im Rahmen des UN-Resettlement-Programms, das ausgeweitet werden muss, sollten im Jahr 2022 ganz besonders Afghan*innen aus dem Iran und Pakistan berücksichtigt werden. Doch Resettlement greift nur aus den Nachbarstaaten, ist langwierig und hilft den Menschen in Afghanistan, die in akuter Lebensgefahr sind, kurzfristig nicht. Auch für Afghanen, die sich in der Türkei, Indien und Indonesien befinden, die alle nicht die Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention gewähren, muss eine Lösung gefunden werden.
Pressekontakte:
PRO ASYL: Günter Burkhardt, presse@proasyl.de, 069 24 23 14 30
Kabul Luftbrücke: Lorenz Hornung, press@luftbruecke.lnob.net