Armut und Migration wegen einer goldenen Ressource: Venezuela

Viele rohstoffreiche Staaten leiden unter politischer Instabilität, die die Bevölkerungen zur Migration zwingt. Nigeria, Irak, Mali, Libyen und Kongo sind nur einige von vielen Ländern, die Diktatur, Armut, Korruption, Hyperinflation und  sozioökonomische wie politische Krisen erlebt haben und erleben. Die Situation in Venezuela ist ein typisches Beispiel für Armut und Abwanderung – nicht trotz, sondern aufgrund von Bodenschätzen. 

Hugo Chavez, der bekannte antiamerikanische Politiker, kam nach dem Kalten Krieg 1998 an die Macht. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Venezuela waren erodiert, seit Chavez Präsident George W. Bush während der UN-Vollversammlung als „Teufel“ bezeichnete und die sozialistische Ideologie Kubas übernahm.

Chavez hatte eine enorme Unterstützung durch die Massen im eigenen Land, vor allem durch die ärmeren Menschen im Land. Als er 2013 starb, wurde er durch seine rechte Hand, Nicholas Maduro, ersetzt. Maduro hat das Land jedoch in eine schwere wirtschaftliche und politische Krise gestürzt, die mehr als 7 Millionen Venezolaner*innen dazu gezwungen hat, ihr Land zu verlassen.

Laut der Venezolanerin Maria Gabriela Trompetero, die an der Universität Bielefeld über erzwungene Migration forscht, begann die politische Krise in Venezuela, als Hugo Chavez 1998 an die Macht kam: „Von 2000 bis 2012 erzielte das Chavez-Regime riesige Einnahmen aus der Ölförderung. Obwohl er anfangs die Absicht oder Vision hatte, den Armen zu helfen, verwandelte er sein Regime in eine Autokratie, die es ihm ermöglichte, die Medien zu kontrollieren und ein hohes Maß an politischer Polarisierung in der Bevölkerung zu schaffen. Chavez starb dann an Krebs und Nicolas Maduro trat seine Nachfolge an. Maduro wurde von Chavez zu seinem Nachfolger ernannt und gewann 2013 eine sehr umstrittene Präsidentschaftswahl. Danach ging der Ölpreis 2013/14 zurück. Ein Problem war und ist die Misswirtschaft, insbesondere im Erdölsektor.“

Zu hohe Lebensmittelpreise sorgten dafür, dass ein Großteil der Bevölkerung Venzuelas Hunger leiden muss.

Weder Maduro noch die goldene Ressource Öl konnten die Menschen in Venzuela bisher vor der hohen Abwanderung und den damit verbundenen sozio-psychologischen Auswirkungen bewahren. Dabei ist Venezuela der Staat mit den derzeit größten Ölreserven der Welt.

Venezuela war einst die Heimat von europäischer Einwanderung aus Spanien, Portugal und Italien. Es waren Menschen, die Anfang der 1970er Jahre vor den letzten Kolonialkriegen in Afrika flohen. Dazu kamen Tausende aus Kolumbien, Peru, Ecuador und einer kleineren Zahl von Personen aus Chile und Argentinien, die vor den Militärregimen der 1970er und 1980er Jahre flohen. Die Abwanderung aus diesem ressourcenreichen Land begann jedoch unmittelbar nach der wirtschaftlichen Verschlechterung in den 1990er Jahren, nachdem Chavez an die Macht gekommen war.

Wichtige treibende Faktoren

Nach Angaben der Europäischen Kommission befindet sich Venezuela derzeit in einer tiefen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise, die mehr als 7,1 Millionen Venezolaner*innen dazu gezwungen hat, ihr Heimatland zu verlassen und zu einem der Länder mit der größten Ernährungsunsicherheit weltweit zu werden (9,3 Millionen Menschen sind 2019 von Ernährungsunsicherheit betroffen). 

„Auch wenn hochqualifizierte Menschen und Investoren schon früher aus Venezuela auswanderten, begannen die meisten erzwungenen Migrationsphänomene in den Jahren 2013 und 2014. Nach 2016 begann eine dramatische Migration aus verschiedenen Gründen. Der Hauptgrund ist eine komplexe humanitäre Notlage, die mit der Hyperinflation und den Wirtschaftskrisen zusammenhängt“, erklärt Trompetero.

Daten von Amnesty International weisen darauf hin, dass der fehlende Zugang zu wirtschaftlichen und sozialen Rechten ein ernstes Problem ist, das die Menschen einer akuten Ernährungsunsicherheit, einer unzureichenden Gesundheitsversorgung sowie einer Hyperinflation aussetzt, die sich auf die Kaufkraft der Bevölkerung auswirkt, um grundlegende Güter zu kaufen; insbesondere diejenigen, die außerhalb der Hauptstadt Caracas leben, erleben eine tiefe humanitäre Krise.

„Die Inflation lag 2018/19 bei fast 1.000.000 Prozent. Das war die höchste Rate der Welt. Die Menschen konnten nicht genug Lebensmittel und Medikamente kaufen. Es herrschte ein hohes Maß an Unter- und Mangelernährung. Die Menschen begannen, 10-12 Kilo abzunehmen. Die Qualität der öffentlichen Bildung und des Gesundheitswesens verschlechterte sich. All diese Faktoren schufen einen humanitären Notstandskomplex. Die grundlegenden Menschenrechte in Venezuela, wie der Zugang zur Gesundheitsversorgung, zu Nahrungsmitteln und zur Bildung, werden vom Staat nicht gewährleistet. Dies sind die Gründe, warum die Menschen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen. Aber das sind nicht die einzigen Probleme in Venezuela.“, erklärt Trompetero.

Neben einer politischen Krise, einer akuten Wirtschaftskrise und einer sozialen Krise gibt es auch andere voneinander abhängige Variablen, die die Venezolaner*innen dazu zwingen, ihr Land zu verlassen. Nachdem Nicolas Maduro das politische System von einem hybriden in ein autoritäres System umgewandelt hat, kontrolliert er den Obersten Gerichtshof und den Nationalen Wahlrat. Dazu hat er die Legislative, die sich seit 2016 mehrheitlich in der Opposition befindet, durch die Schaffung einer illegitimen Verfassungsgebenden Nationalversammlung entmachtet.

 

Staatliche Sicherheitskräfte haben in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste gegen das Maduro-Regime mit Gewalt unterdrückt.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 erklärte sich der Oppositionelle Juan Guaidó zum Interimspräsidenten Venezuelas  und wurde von mehr als 50 Ländern, darunter die USA, das Vereinigte Königreich, das EU-Parlament und die meisten lateinamerikanischen Staaten, als legitimer Führer anerkannt. Nicolás Maduro allerdings lehnte diese Wahl ab und ließ sich selbst zum Präsidenten wählen, was zu einer Wirtschaftskrise und mehreren öffentlichen Protesten gegen das Regime führte, auf die Maduro mit Gewalt reagierte und diese unterdrückte.

„Obwohl Maduro eine Wahl in Venezuela abgehalten hat, hat er das Wahlverfahren missbraucht, was zu großen Protesten und politischen und wirtschaftlichen Unruhen im Land geführt hat. Journalisten und Mitarbeiter von humanitären Organisationen wurden in Venezuela verfolgt und gefoltert. Die meisten haben Venezuela verlassen. Es ist sehr gefährlich, im Land zu protestieren. In Venezuela gibt es paramilitärische Gruppen, die von der Regierung unterstützt werden und Menschenrechtsverletzungen wie Angriffe, Tötung, Folter und Einschüchterung begehen“, so Trompetero.

Ist die Situation jetzt schlimmer?

Laut Amnesty International nimmt die Zahl der Proteste und Demonstrationen in Venezuela ab, weil das Regime Menschenrechtsaktivisten und Bürger zum Schweigen bringt, was eine große Gefahr für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die bürgerlichen und politischen Rechte darstellt, während außergerichtliche Hinrichtungen und willkürliche Verhaftungen in verschiedenen Teilen des Landes zunehmen. 

„Es herrscht ein hohes Maß an Unsicherheit in Venezuela. Seit den 2000er Jahren hat die Kriminalität dramatisch zugenommen. Wenn Sie beliebige Menschen aus Venezuela fragen, werden Ihnen diese erzählen; dass sie entweder einen bewaffneten Raubüberfall erlebt haben; dass Familienmitglieder getötet wurden oder Ähnliches. Ich vermute, dass das Ausmaß an Gewalt in Verbindung mit Kriminalität in Venezuela am höchsten ist.“

„Es gibt simultan mehrere Krisen in Venezuela.“ sagt Sebastian Lupke, Projektkoordinator von ACT beim Sächsischen Flüchtlingsrat und ehrenamtlicher Mitarbeiter von Amnesty International: „Wer die Regierung kritisiert, wird verfolgt. Es gibt paramilitärische Gruppen, auf Spanisch nennt man sie ‚Colectivos‘, die dort rauben und töten. Die Wirtschaft ist völlig zusammengebrochen. Viele Menschen aus Venezuela sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Ihr Einkommen reicht nicht aus, um Lebensmittel zu kaufen“.

Seit die Gewalt und Verbrechen durch organisierte bewaffnete Gruppen und Banden zugenommen haben, ist die Mordrate mit 40,4 Toten pro 100.000 Einwohner im Jahr 2022 die höchste der Welt. Während der Mindestlohn von 29,68 US-Dollar auf 9,20 US-Dollar gesunken ist, gehen bis zu 70 % der Kinder im schulpflichtigen Alter nicht zur Schule.

„Seit 2020 hat sich die Situation ein wenig verändert, weil das Regime die Wirtschaftspolitik angepasst und den Markt geöffnet hat und ihn (defacto) dollarisiert hat, was einigen Menschen zugute kommt, aber nicht allen. Heute gibt es also keine Lebensmittelknappheit, das Problem sind die Preise und die Löhne. Im öffentlichen Sektor beträgt der Mindestlohn beispielsweise nur 6 Dollar pro Monat. Die meisten Venezolaner sollten also 2 oder 3 Jobs haben oder von ihren Familienangehörigen im Ausland unterstützt werden. Diejenigen, die keine Unterstützung haben, haben zu kämpfen; Kinder und ältere Menschen leben mit Unterernährung. Der Zugang zu Bildungs- und Gesundheitsdiensten ist noch nicht verbessert worden, weshalb es im Januar sogar zu Protesten im öffentlichen Sektor kam. Hinzu kommt die Korruption, die zu den größten Ungleichheiten der Welt geführt hat“, erklärt Maria Gabriela die tiefe sozioökonomische und politische Krise in Venezuela.

Hunger, Unterdrückung und Perspektivlosigkeit zwingen viele Menschen im Land zur Migration.

Venezolaner*innen in Deutschland

Nach Angaben vom Verein „Einheit für Venezuela“, einer bundesweiten Nichtregierungsorganisation in Deutschland, leben 7.731 Venezolaner*innen in Deutschland. Nicht mitgezählt sind dabei Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit – die mit einem Pass der Europäischen Union nach Deutschland eingereist sind – Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben und daher ihre venezolanische Staatsangehörigkeit aufgeben mussten, oder Venezolaner*innen, die sich irregulär in Deutschland aufhalten. Die Zahl der Asylanträge von Personen aus Venezuela hat in den letzten Jahren zugenommen, so dass Venezuela das Land mit der höchsten Zahl von Anträgen aus Lateinamerika ist. So wurden allein zwischen dem 1. Januar 2020 und dem 31. Oktober 2020 546 Asylanträge in Deutschland gestellt.

Sachsen ist das einzige Bundesland, welches mit der Bearbeitung von Asylanträgen von Menschen aus Venezuela beauftragt ist. Die Daten zeigen, dass unter den 6.645 Asyl- und Flüchtlingsbewerbern in Sachsen, die ihre Anträge im Jahr 2019 gestellt haben (5 % der Gesamtzahl in Deutschland), Venezolaner mit 11,4 % an erster Stelle stehen, gefolgt von Antragstellenden aus Georgien, Syrien und Pakistan. Im Jahr 2022 wurden von 1.841 Asylanträgen von Venezolanerinnen und Venezolanern in Deutschland 1.686 nach Sachsen überstellt, womit sie die zweitgrößte Gruppe unter den Asylbewerbern im Bundesland sind, übertroffen nur von Menschen aus Syrien.

„Es gibt so viele Venezolaner*innen in Sachsen, weil sie Sachsen für Asylverfahren zugewiesen werden. In den letzten Jahren sind 90 Prozent aller Venezolaner*innen, die nach Deutschland kamen, nach Sachsen überstellt worden. Sie haben sich gut organisiert, sind vernetzt und helfen sich gegenseitig beim Austausch von Informationen über das Asylverfahren. In unserer Beratungsstelle haben wir vielen von ihnen bei der Unterbringung, dem Asylverfahren, dem Recht auf Aufenthaltsgenehmigung und dem Arbeitsmarkt geholfen, obwohl es eine Sprachbarriere gibt, da es in Sachsen an Übersetzungsmöglichkeiten fehlt“, so Lupke.

Die Menschen aus Venezuela, die einen negativen Bescheid über ihre Anträge erhalten haben, sind nicht glücklich über die Situation, die sie in Sachsen erleben, sagte Maria Gabriela. „Die Behörden haben sie an den Rand der Stadtzentren geschickt, wo es ihnen schwer fällt, sich in die Gesellschaft zu integrieren“. 

Auch wenn sich die politische und wirtschaftliche Lage in Venezuela nicht verbessert hat, gab es in letzter Zeit immer wieder Abschiebungen und Drohungen aus Deutschland nach Venezuela.  „Die letzte Abschiebung nach Venezuela war im Jahr 2019. Bis Dezember 2022 hatte es keine Abschiebung nach Venezuela gegeben. Doch in diesem Jahr, Ende Januar, haben die Behörden wieder mit der Abschiebung von Venezolanern begonnen. Wir haben dokumentiert, dass drei Personen nach Venezuela abgeschoben wurden, obwohl der dritte Abschiebeversuch vor kurzem am Flughafen abgebrochen wurde. Leider fahren die Behörden mit der Abschiebung fort, was bei den Venezolanern Angst auslöst. Die politische und wirtschaftliche Lage in Venezuela verschlechtert sich zusehends. Es gibt also keinen Grund, Venezolaner jetzt in ihr Heimatland abzuschieben“, betont Lupke.

Gibt es einen Hoffnungsschimmer im Vorfeld der kommenden Wahlen?

Obwohl in Venezuela im nächsten Jahr Wahlen stattfinden werden, haben die Menschen bereits das Vertrauen in die repressive Regierung von Nicolas Maduro verloren und sind seit Januar fast zwei Monate lang auf die Straße gegangen, um zu protestieren.  Lehrer, Krankenschwestern, Beamte und Rentner haben demonstriert: „Die Politik ist uns egal. Wir pfeifen auf Wahlen. Wir wollen würdige Arbeitsbedingungen, und zwar jetzt“.

„Selbst wenn nächstes Jahr in Venezuela gewählt wird, habe ich keine Hoffnung, dass sich die politische und wirtschaftliche Lage des Landes ändern wird, denn das System ist korrupt, und ich glaube, dass Nicholas Maduro einen Weg finden wird, die Wahlen zu gewinnen. Die einzige Hoffnung ist der Druck der internationalen Gemeinschaft und von Institutionen wie den Vereinten Nationen (UN) und der Europäischen Union (EU).  Gegen Nicolas Maduro wird derzeit vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ermittelt. Diese Art von Druck könnte sich also positiv auf die Venezolaner auswirken“, sagte Lupke.

Für Maria Gabriela sind die Menschen des politischen Protests überdrüssig, weil sie sowohl von der Regierung als auch von einer regierungsnahen paramilitärischen Gruppe massiv bedroht werden.  „Es ist schwierig, von den kommenden Wahlen auf eine bessere Zukunft zu hoffen. 

„Die deutsche Regierung und das Volk sollten die Venezolaner nicht vergessen, um die Menschenrechtssituation zu verbessern. Gerade die Menschen aus Ostdeutschland können nachvollziehen, wie sozialistische Diktatur auf die Menschen wirkt. Denn viele Menschen in Sachsen haben bereits eine Autokratie erlebt“, sagte Lupke und erinnerte an die Verantwortung hiesiger Behörden aus der eigenen Geschichte heraus.

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Bildquellen

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  • venezuela-6828932_1920: Maca Raibo
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