Die Türkei nimmt derzeit Rang drei unter den Hauptherkunftsländern von Geflüchteten in Deutschland sowie Sachsen ein. Darüber hinaus kommen viele Menschen aus dem Land zu Arbeits- und Ausbildungszwecken nach Deutschland. Laut einer UNICEF-Studie wollen 76 Prozent der Jugendlichen in der Türkei ihr Land verlassen. Die Gründe für die breite Unzufriedenheit der Bevölkerung sind vielfältig und es werden immer zahlreiche weitere Gründe fehlen, warum sich das Land für die Mehrheit ihrer Einwohner*innen zum Albtraum entwickelt hat.
Osman Oğuz*
“Manch einer kennt die Arten der Pflanzen oder der Fische“, sagte Nâzım Hikmet, der große Dichter des Türkischen, und fügte hinzu: “Ich kenne die des Getrenntseins/ manch einer weiß die Namen der Sterne auswendig/ ich die der Sehnsucht.”
“Meine Werke werden in dreißig, vierzig Sprachen gedruckt“, seufzte er in weiteren Zeilen: „In meiner Türkei, in meinem Türkisch sind sie verboten.” Doch nach einigen Umwegen voller Sehnsucht fand er etwas Trost in der Brust von Berlin: “Wenn ich heute in Berlin vor Kummer krepieren sollte,/ kann ich doch sagen ich habe gelebt wie ein Mensch.” 1
Zwei Jahre nach diesen Zeilen, 1963, starb er im russischen Exil. In seinem Gedicht “Vasiyet” (Testament) wünschte er sich, in einem Dorf in Anatolien begraben zu werden – wenn möglich unter einer Platane, nicht unbedingt mit einem Grabstein. Dennoch musste er in Moskau begraben werden, wo er bis heute auf einem Ehrenfriedhof ruht – aus der Heimat verbannt, in der Fremde verehrt.
Nâzım Hikmet, mit seiner aufrichtigen und tiefgründigen Stimme, könnte dazu beitragen, einen Teil der Hintergründe des Exils aus der Türkei zu verstehen und einen Einblick in die Gefühlswelt der Exilierten zu gewinnen. Denn ob man es “Tradition” oder “historische Kontinuität” nennt: Für die Republik Türkei, die sich seit ihrer Gründung mit der Demokratisierung schwer tut, ist die Verbannung der Opposition eines der wichtigsten Instrumente ihrer Bekämpfung. Literatur, Kino und Musik der Türkei (ob in türkischer, kurdischer oder armenischer Sprache) sind voll von Erzählungen über erzwungene Migration – sei es in Form von Exil oder “Gastarbeit”. Wörter wie “gurbet” oder “sıla”, die sich nicht vollständig ins Deutsche übersetzen lassen, drücken die Gefühle der Ausgewanderten oder Zurückgebliebenen aus.2
Was Nâzım für sich selbst behauptet, ließe sich also auf die kollektive Gefühlswelt ausweiten: Manch eine Sprache kennt die Arten der Elemente vom Periodensystem – die Sprachen von Anatolien und Mesopotamien hingegen die der Vertreibung und der Sehnsucht.
76 Prozent der jungen Menschen wollen das Land verlassen
Mittlerweile hat es wahrscheinlich jede*r gehört: Die Europäische Union hat mit der Regierung der Türkei ein sogenanntes „Flüchtlingsabkommen“ unterzeichnet. Ziel des Abkommens besteht darin, dass die Türkei Geflüchtete aus verschiedenen Ländern, vor allem aus dem Nahen Osten, auf ihrem Territorium daran hindert, nach Europa zu gelangen.3 Dennoch gibt es ein zunehmendes Problem: Inzwischen möchten sogar die Staatsbürger*innen der Türkei nicht länger in ihrer Heimat bleiben.
Der Journalist Bülent Mumay wies in seiner Kolumne in der FAZ auf eine Studie des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) hin, die die Situation (wie man im Türkischen sagen würde) wie eine Kürbisblüte hervorbringt: In der Türkei leben die unglücklichsten Kinder der Welt. 47 Prozent der 15-jährigen geben an, mit ihrem Leben unzufrieden zu sein. Zudem wollen 76 Prozent der Befragten zur Ausbildung oder zum Arbeiten ins Ausland gehen, und 64 Prozent planen, die Türkei dauerhaft zu verlassen.
Die Gründe für die breite Unzufriedenheit der Bevölkerung sind vielfältig.
Die hohe Inflation, deren Ausmaße die Medien längst mit Vorsilben wie “hyper” oder “mega” zu beschreiben versuchen.
Das Ausmaß der repressiven Maßnahmen gegen jede Art von demokratischem Protest und die ungeheure Dominanz der paramilitärischen Organisationen und der sogenannten Wächter rufen wiederum ständig die Wörter “Faschismus” oder “Neofaschismus” hervor.
Die Normalisierung und Ausbreitung der unrechtmäßigen Gewalt, sei es in Form mafiöser Strukturen, staatlich geförderter und angewandter Folter, rasant zunehmender Femizide oder rassistischer Übergriffe auf Geflüchtete.
Die kriegerischen Operationen gegen Kurd*innen innerhalb oder außerhalb des Landes.
Die Verfolgung und Verhaftung der Opposition, zu der auch weite Teile der Gesellschaft durch verschiedene Belohnungssysteme motiviert werden, wodurch ein allgemeines Klima der (faschistischen) Überwachung entsteht.
Die Beteiligung des Staates samt seiner korporativen Akteure an zahlreichen Kriegen und Konflikten, sei es durch eigene militärische Kräfte oder durch den Export/Transport von Waffen, Munition und Drohnen.
Die zunehmende Islamisierung des Staates und des Bildungswesens, von der alle Sekten und nationalistische (turkislamistische) Strömungen profitieren, die inzwischen in vielen Städten eine unbestreitbare Hegemonie erlangt und die säkular-demokratischen Grundwerte ins Wanken gebracht haben.
Hinzu kommt, dass die Türkei mit einem Anteil von Arbeitenden, die in der Woche mehr als 60 Stunden arbeiten (15 Prozent), der Spitzenreiter unter den OECD-Ländern ist und mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 45,6 Stunden pro Woche den zweiten Platz belegt. Angesichts der hohen Zahl von Arbeiter*innen, darunter auch geflüchtete Kinder, die nicht registriert und versichert sind, dürften diese Werte deutlich höher liegen, und die Türkei könnte sich damit als Champion der Ausbeutung behaupten. Denn die Türkei gehört zu den Ländern, in denen laut Global Slavery Index die meisten Menschen in moderner Sklaverei gefangen sind: 1,3 Millionen Menschen leben in der Türkei in Zwangsarbeit. Ähnlich hoch sind die Zahlen für Kinderarbeit: Im Jahr 2012, noch bevor Millionen von Geflüchteten in die Türkei kamen, arbeiteten schätzungsweise 883.000 Kinder, hauptsächlich in der Landwirtschaft, der Textilindustrie und im Dienstleistungssektor. Durch die arbeitenden Kinder der Geflüchteten dürfte die Zahl heute weitaus höher liegen.
Nicht mehr zu atmen
Genug aufzählen kann man nicht – es werden immer zahlreiche weitere Gründe fehlen, warum sich die Türkei für die Mehrheit ihrer Einwohner*innen zum Albtraum entwickelt hat. Dies zeigen zuletzt die aktuellen Statistiken zu den Geflüchteten in Deutschland: Das Land belegt mittlerweile den dritten Platz bei den Hauptherkunftsländern der Asylbewerber*innen. Hinzu kommen unzählige Türkeistämmige, die sich einen legalen Weg wie Ausbildung oder Arbeit erkämpft haben oder leisten konnten. Tagtäglich berichten sogenannte Fachkräfte wie Ärzt*innen, Ingenieur*innen, Friseur*innen oder Kranken- und Altenpfleger*innen in den sozialen Netzwerken, dass sie es endlich geschafft haben, ihr Heimatland zu verlassen. „Die Türkei hat eine Ärztin verloren“ heißt es häufig in den Tweets, die in Enttäuschung oder Wut münden: „Hier konnte man nicht mehr atmen!“
Insbesondere nach den Wahlen4, die für viele als „letzte Hoffnung“ galten, steigt bei vielen die Bereitschaft, das Land zu verlassen, während wenige andere die Entwicklung zum Billiglohnland regelrecht genießen. Die Erdoğan-Diktatur füttert einerseits ihre eigene Bourgeoisie in Partnerschaft mit überwiegend westlichen Konzernen, indem sie durch staatliche Aufträge in Sektoren wie Immobilien, Straßenbau, Kriegsindustrie und Bergbau gestärkt wird.5 Andererseits führt sie die immer ärmer werdende Bevölkerung in eine „Bettlergesellschaft“, die von staatlicher Unterstützung abhängig und damit zum Gehorsam verdammt ist. Das Grauen dieser Entwicklung wurde besonders deutlich, als Erdoğan nach dem Wahlsieg seines Bündnisses vor einem Wahllokal Geldscheine verteilte.
Die Türkei scheint mittlerweile nicht nur ein politisches und wirtschaftliches, sondern auch ein sozialpsychologisches Problem zu haben – soziologische oder politische Analysen nähern sich immer mehr der Pathologie an. Dies zeigen ebenfalls zahlreiche Videos von den unterschiedlichen Gewaltszenen, die in den sozialen Netzwerken kursieren – sei es von Femiziden, Folter an Geflüchteten, Polizeirazzien oder Kinderarbeit.
Szenen aus demselben Ödland
Mit diesen Entwicklungen steht die Türkei natürlich nicht allein. Als Land des Mittleren Ostens befindet sie sich am Schnittpunkt sich zuspitzender Konflikte und Widersprüche, die die ganze Welt betreffen. Darüber hinaus muss jede Analyse der heutigen Türkei vom Kontext der neoliberalen “Eroberung” und Transformation vieler Länder ausgehen – insbesondere von der Krise, in der sich die Welt seit 2008 befindet. Wir stehen vor einer neuen Situation, die aber nicht vom Himmel gefallen ist: Wenn man nach Chile, Syrien, Kolumbien, Ungarn, Vietnam, Ägypten, Bangladesch oder Polen schaut, kann man ein Stück Türkei sehen – und umgekehrt. Einige Stichworte, die für dieses international geteilte Schicksal stehen, wären: Privatisierungen, Verschwinden der Mittelschicht, Umweltzerstörung für industrielle Zwecke (aka Extraktivismus), Orientierungslosigkeit der breiten Massen, Diktatoren als Türsteher, Entwicklung zum Billiglohnland.
Dies sind Szenen aus demselben Ödland, zu dem immer mehr Gesellschaften geführt werden. Diejenigen, die unsere Länder in Partnerschaft mit lokalen Diktatoren zu Kriegen, Ausbeutung und Verwüstung verdammen, wollen jedoch in feierlicher Stimmung darüber reden, dass eine Expedition zum Mars organisiert wird. Gleichzeitig versuchen viele Menschen, der Hölle zu entkommen, in der sie gefangen sind – notfalls mit selbstgebauten Booten vom Mittelmeer aus oder tagelang wandernd durch die Wälder. „Kann man sich eigentlich an die Räder eines Flugzeugs klammern?“ mussten sich viele Menschen noch vor Kurzem fragen, und einige taten das tatsächlich. Wie kann Verzweiflung noch deutlicher ausgedrückt werden? Denn alles ist besser als in einem Stellvertreterkrieg zu sterben oder sein Leben in einer überfüllten Textilfabrik zu vergeuden.
Nichts darf in Hoffnungslosigkeit enden, denn wir leben. Die Wörter der Hoffnung sollten genauso viel Raum einnehmen wie die Beschreibung dieser öden Zustände, glaube ich – oder ich möchte daran glauben. Deshalb endet dieser Text mit einem anderen Gedicht von Nâzım, das zwar ebenfalls von Sehnsucht spricht, aber von einer, die wir alle teilen könnten – wenn wir es nur wöllten:
Leben wie ein Baum, einzeln und frei
doch geschwisterlich wie ein Wald
das ist unsere Sehnsucht
* Osman Oğuz ist 2013 aus der Türkei geflohen, nachdem er aus politischen Gründen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Derzeit arbeitet er in der Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrats.
1 Aus dem Türkischen übersetzt von Gisela Kraft.
2 “Liebe, D-Mark und Tod”, ein neuer Dokumentarfilm, behandelt einen Teil dieser Geschichte am Beispiel der Musik von Gastarbeiter*innen. Er ist zur Zeit auf Mubi zu sehen und sehr empfehlenswert. Allerdings muss ich eine Kritik hinzufügen: Die Geschichten der nichttürkischen (z.B. kurdischen, armenischen etc.) Gastarbeiter*innen aus der Türkei kommt fast gar nicht vor, und das ist eine sehr wichtige Lücke des Films.
3 Die Türkei ist derzeit das Land, das weltweit die meisten Geflüchtete aufgenommen hat. Laut UNHCR lebten Anfang 2023 fast 4 Millionen Geflüchtete in der Türkei.
4 Die Wahlen führten zum Sieg von Recep Tayyip Erdoğan, dem Kandidaten der von der AKP und der MHP sowie anderen nationalistischen/konservativen Interessengruppen gebildeten “Volksallianz”, die das Land seit 2015 mit zunehmend autoritären/neofaschistischen Methoden und (teils paramilitärischen) Organisationen regiert. Er wurde erneut zum Staatspräsidenten gewählt und erhielt die Ermächtigung zur Regierungsbildung. Bei den Parlamentswahlen erhielt die Volksallianz 49,5 Prozent der Stimmen und sicherte sich 323 von insgesamt 600 Parlamentssitzen.
5 Eine drastische Auswirkung dieser Entwicklung wurde durch die Erdbeben am 6. Februar 2023 sichtbar. Viele der neu gebauten Häuser sind eingestürzt, und die Privatisierungen sowie der Rückgang des Sozialstaates haben sich in einer unhaltbaren Weise manifestiert. Sechs Monate nach dem Erdbeben sieht es leider auch nicht anders aus: In den betroffenen Regionen fehlt es immer noch am Nötigsten.