Newroz-Feier in den Straßen von Darmstadt, 2021
Heute (21. März) ist Newroz – das Frühlingsfest vieler Gesellschaften. Millionen Menschen weltweit feiern heute den Beginn des Frühlings, aber es bedeutet nicht nur die Wiederblüte der Bäume und die Begrüßung der Sonne, die nun tiefer eindringt. Viele Menschen verbinden mit diesem Fest den Aufbruch in ein aufblühendes Leben und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen Blogbeitrag mit einer Zwischenbilanz in unserem Bereich. Der Beitrag wurde ursprünglich als Redebeitrag für die Demonstration des Bündnisses Sachsen Muss Aufnehmen am 21. März 2024 in Dresden geschrieben und dort verlesen. Wir wünschen allen unseren Freund*innen ein frohes Newroz, einen fröhlichen Frühling.
von Osman Oğuz (Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrates)
„Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte
Die im Dunkeln sieht man nicht.“
(Bertolt Brecht)
Liebe Mitmenschen,
wir grüßen aus der Provinz namens Deutschland – oder vielleicht etwas knackiger formuliert: aus einem Land der Selbstgefälligkeit und Verantwortungslosigkeit. Das zeigt sich in aller Deutlichkeit, wenn wir über Geflüchtete sprechen und vor allem, wenn wir die relevantesten Fragen stellen, die auch Deutschland betreffen: Warum sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht? Was trägt Deutschland dazu bei, dass diese Menschen fliehen? Wie können die Fluchtursachen bekämpft werden – was kann Deutschland dazu beitragen?
Wir leben, wie uns inzwischen täglich vor Augen geführt wird, in einer Zeit der Krisen und Katastrophen. Die Folgen der Klimakatastrophe in Verbindung mit der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise; zahlreiche Kriege mit deutschen Waffen und deutscher Beteiligung, immer mehr Diktatoren mit europäischer bzw. deutscher Unterstützung, sei es als Grenzschützer oder zur autoritären Kontrolle billiger Arbeitskräfte; eine Ausbreitung und Normalisierung von Gewalt in allen Lebensbereichen; eine Ignoranz (fast wie im oscargekrönten Film „The Zone of Interest„) gepaart mit einem kulturalisierten Herrschaftsanspruch wie in kolonialen Zeiten und vieles mehr: Willkommen in der neoliberalen Hölle mit ihrem Teufelskreis!
So grauenhaft das auch ist, wir müssen es benennen: Menschenleben zählen immer weniger und schlimmer noch: Vertreibung, Folter und Massaker an den Armen und Unterdrückten werden immer offener gefeiert.
Ein Befund liegt auf der Hand: Immer mehr Menschen können sich diese Welt, wie sie ist und wie sie sich derzeit überall entwickelt, einfach nicht mehr leisten. Dennoch wird eine Alternativlosigkeit propagiert und alle grundsätzlichen Fragen durch Scheindebatten blockiert. Etwa über Geflüchtete – als Quelle allen Übels.
Der „schützenswerte“ Wohlstand
„Wir müssen unseren Wohlstand vor ihnen schützen“, heißt es: „Sonst kommen sie und fressen uns auf!“
Ein Wohlstand, der Ausbeutung, Krieg, Klimakatastrophen und letztlich Flucht verursacht.
Wir, Flüchtlinge, sind gewissermaßen Produkte „eures“ Wohlstands. Wenn wir unbedingt eine konkrete Quelle für die Herausforderungen dieser Zeit definieren müssen, dann ist es „euer“ skrupelloser, wahnsinniger, gieriger Wohlstand – „euer“ Kapitalismus, der keine Grenzen kennt, wenn es um Ausbeutung, Herrschaft und Kriege geht, der uns aber hinter die Grenzen drängt, wenn wir mit unserem Gepäck kommen und unser Recht auf Leben einfordern – von konkreten Adressat:innen statt von Gott.
Liebe Mitmenschen,
die Debatte um Geflüchtete war in den letzten Monaten eine Antwort der deutschen Politik auf Krisen, Kriege und Katastrophen. Kaum hatten wir über Inflation, den Abbau des Sozialstaates, Wohnungsnot, die immer sichtbarer werdenden Folgen der Klimakatastrophe, breite Orientierungslosigkeit und eine konsequente Friedenspolitik gesprochen, wurde auf Geflüchtete geschossen – von fast allen Seiten.
Diese Rede möchten wir auch dazu nutzen, eine grobe Zwischenbilanz der letzten Monate zu ziehen, die auch als Aufarbeitung dienen kann – insbesondere für diejenigen, die auf der Suche nach Antworten sind, die funktionieren.
Die GEAS-Reform
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) war einer der Ausgangspunkte sowohl für die Angriffe auf das Asylrecht als auch für die zunehmende Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten.
Die Europäische Union (EU) plant zentral gesteuerte Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen und in Zentren, die zu dem Niemandsland namens „Fiktion der Nichteinreise“ gehören. Menschen werden inhaftiert und in Auffanglager gesteckt, um schnell wieder abgeschoben zu werden. Es wird kein rechtmäßiger Asylprozess gewährleistet. Die Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen, die bereits in einem unerträglichen Maß stattfinden, werden massiv zunehmen und rechtlich legitimiert. Zudem werden die Kriterien für die sogenannten „Sicheren Staaten“ gesenkt, sodass Länder mit schwersten Bedingungen und diktatorialen Regierungen leichter als „sicher“ erklärt werden können. Somit will die EU Kettenabschiebungen erleichtern: Mit der Reform will sie bis zu 120.000 Menschen pro Jahr inhaftieren, weil sie sich auf die Suche nach einem sicheren Leben gemacht haben.
Viele Namen, eine Partei
Inmitten der Heuchelei der Regierungsparteien, die sich angeblich gegen den Rechtsruck stellen (indem sie selbst nach rechts rücken?), wurde in Deutschland ein weiteres Gesetz verabschiedet – das sogenannte „Rückführungsverbesserungsgesetz“: ein Euphemismus für Entrechtung, an den wir uns mittlerweile gewöhnt haben. In Wirklichkeit müsste es heißen: Abschiebungsverschlimmerungsgesetz.
Das neue Gesetz verlängert die Abschiebehaft auf 28 Tage und gibt der Polizei erweiterte Rechte bei der Suche nach abzuschiebenden Geflüchteten. Die Bewegungsfreiheit der Menschen wird weiter eingeschränkt und das sogar während eines laufenden Gerichtsverfahrens zum Asylantrag. Die Seenotretter:innen werden wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ kriminalisiert, selbst wenn es sich um Kinder in Seenot handeln würde.
Viele Grüne stellten sich hinter die Entrechtung von Geflüchteten, weil sie „moralisch schwierige Entscheidungen“ treffen und sich „zwischen Menschlichkeit und Machbarkeit“ entscheiden müssten. Applaus erwarten sie, weil sie sich dafür einsetzen, dass abzuschiebende Kinder mehr Zeit haben, sich von ihren Schulfreund:innen zu verabschieden. Zum Fremdschämen!
Bundesminister Scholz (SPD) sprach von „Abschiebungen im großen Stil“ und in der meistgesehenen Talkshow berichtete die Co-Vorsitzende der SPD stolz über die steigenden Abschiebezahlen unter ihrer Regierung. Der andere Co-Vorsitzende setzte noch einen drauf und plädierte für die „Auslagerung von Asylverfahren in andere Länder“.
Für die FDP kommen die Geflüchteten nur, um „Deutschland auszunutzen“. Wörtlich schreiben die beiden Minister der Partei, dass „sogar eine Absenkung der Leistungen quasi auf Null denkbar“ wäre. Offen wollen sie also Menschen unter das Existenzminimum drücken.
CSU und CDU unterstützen diese rechte Politik der Bundesregierung nicht nur, sondern bringen Vorschläge für noch schärfere Maßnahmen ein. Dabei häufen sich kulturalisierte Scheinargumente. Aus ihrer Sicht sollen wir wegen unserer vermeintlichen Rückständigkeit abgeschoben werden. Die CDU will uns mit ihrem Grundsatzprogramm davon überzeugen, dass ausschließlich sie für Freiheit steht. Ihre Freiheit bedeutet, frei zu sein von den Verdammten dieser Erde, die sie mit ihrer Politik zu einem nackten Überleben zwingen. So finden flüchtlingsfeindliche Einstellungen auch in der Mitte der Gesellschaft immer mehr Zulauf und sorgen für neue Dimensionen eines immer aggressiveren Rassismus.
Wohin fließen die Steuergelder?
Hinter der Einführung der Bezahlkarte steht ebenfalls eine Debatte mit erschreckend menschenverachtenden Argumenten, die offen die Einschränkung von Grundrechten wie dem Selbstbestimmungsrecht fordern. So soll Deutschland für Geflüchtete möglichst unattraktiv gemacht werden. Namhafte Politiker*innen haben keine Scheu zu sagen, dass Asylbewerber*innen einen Teil ihrer geringen Asylbewerberleistungen an ihre Angehörigen in den Heimatländern überweisen würden.
Dabei haben wir in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, wie mit dem Leid von Menschen ein Riesengeschäft gemacht wird. Die Übernahme der European Homecare GmbH, die auch in Sachsen zahlreiche Asylunterkünfte betreibt, durch die Serco-Group, einen multinationalen Großkonzern, hat dies noch einmal in aller Deutlichkeit gezeigt. Nur ein Teil des Geldes, das diese Konzerne vom Staat erhalten, kommt bei den Adressat*innen (also den Asylsuchenden) an, und dann fließen diese Steuergelder auch noch ins Ausland: Die Serco-Group hat ihren Hauptsitz in Großbritannien. Hier ist von Summen die Rede, die nicht mal alle Asylbewerber*innen zusammen ins Ausland überweisen könnten.
Hier sind keine Maßnahmen gegen den Rechtsruck zu finden. Die Bundesregierung, die Unionsparteien und die AfD betreiben aus eigener Motivation eine rechte, rassistische, menschenverachtende Politik gegen Geflüchtete und alle verarmten, besitzlosen Menschen in diesem Land und in dieser Welt. Eine Politik von oben, die uns zu Zahlen macht: Ob Zahlen der Geschäfte und Profite, Zahlen der erfolgreich Abgeschobenen oder Zahlen der Vertriebenen und Getöteten. Diese Maschinerie, die sich jeden Tag weiter ausbreitet und uns vor allem daran hindert, unsere eigene Situation wirklichkeitsgerecht zu definieren, müssen wir anprangern. Wir sind keine Zahlen, wir sind Menschen, deren Schicksal voneinander abhängt.
Menschen und ihre Rechte
Liebe Mitmenschen,
nicht zuletzt durch die Unternehmen, die nun auch in Sachsen zahlreiche Asylunterkünfte übernommen haben und weltweit am Kriegsgeschäft beteiligt sind, sehen Millionen Menschen weiterhin den einzigen Weg zu einem menschenwürdigen Leben in der Flucht. Wie mit ihnen an den Außengrenzen umgegangen wird, mussten wir erst kürzlich wieder mit ansehen: Bis auf die Unterwäsche entkleidete Geflüchtete werden in einer kalten Nacht zu Fuß zurückgedrängt. Wenn sie es trotz aller Demütigungen, Folter und Lebensgefahr bis in den Freistaat Sachsen schaffen, werden sie derzeit in Containern untergebracht, in denen es an Vielem fehlt – von Privatsphäre ganz zu schweigen. In vielen Fällen gibt es keinen Zugang zu Schulen oder Deutschkursen, auch nicht für schulpflichtige Kinder. Im Grunde werden sie mit ihrem Überleben und der Last der beschwerlichen Flucht allein gelassen. Die Abschiebung schwebt als Damoklesschwert über ihnen – immer härter, immer deutlicher.
Menschenrechte werden unter den Umständen zur leeren Worthülse, wenn Bomben fliegen, wenn Menschen bis zu 70 Stunden pro Woche in Fabriken eingesperrt werden, wenn Menschen an den Außengrenzen zu unsichtbaren Zahlen und in Deutschland zur bloßen Bedrohung werden und ihr Leben zu einem Überleben, das nicht zählt. Die angeblich „wertebasierten“ Versprechungen, die zu einer neokolonialen Modernisierungslinie werden, sind eine Heuchelei, die man sich zunehmend nur noch unter zentralkapitalistischen Bedingungen leisten kann. Die europäischen Staaten sind nicht die Beschützer der Menschenrechte, im Gegenteil: In ihren Händen werden die Menschenrechte zum Instrument der Legitimation des furchtbaren Status quo.
Auf der einen Seite eine Politik, die die Armen hier und weltweit noch ärmer macht, auf der anderen Seite Entrechtung und Hetze gegen Geflüchtete. Dabei sind wir Geflüchtete von den gleichen Problemen betroffen wie die vielen Menschen in diesem Land, die tagtäglich zu mehr Prekarisierung und jeglichen Zukunftängsten verdammt werden. Genau hier sind Ansätze gefragt, die uns zusammenbringen, zu denen aber offenbar selbst viele soziale Bewegungen in Deutschland zumindest noch nicht in der Lage sind.
Ein frohes Newroz!
Liebe Mitmenschen,
wir brauchen einen internationalen Aufbau von unten – mit den verarmten, entrechteten, unterdrückten Massen und für eine gerechte Welt für alle.
Eine gerechtere, menschenwürdigere und friedlichere Welt muss wieder eine Perspektive werden. Diese Hölle ist nicht unser Schicksal!
Wir wollen uns von Euch nicht mit der Bedrückung der Gegenwart verabschieden, sondern mit der Hoffnung auf unsere ersehnte Zukunft – mit der Hoffnung auf eine Welt ohne Grenzen und ohne Ausbeutung.
Heute ist der Tag dafür: das Frühlingsfest Newroz, das wir auch in Kurdistan mit einem Geist des Widerstands und der Freiheit begrüßen. Newroz steht nicht nur für die Wiederblüte der Bäume und das tiefere Eindringen der Sonne, sondern hat seit Beginn seiner Geschichte verschiedene Aspekte der Wiedergeburt und des Aufbruchs hervorgerufen.
Also: „Lasst euren Nacken nicht bräunen“ – lasst euch nicht entmutigen. Wie wir es schaffen, mag noch unklar sein, aber die Zukunft gehört uns. Wie Rosa Luxemburg, eine Geflüchtete ihrer Zeit, werden wir uns unermüdlich auf jeden Frühling freuen und in den Blüten die Vorzeichen neuen Lebens finden, und wie Pablo Neruda werden wir an den Frühling glauben: „Sie können wohl alle Blumen abschneiden, aber sie können den Frühling nicht verhindern.“
Euch allen ein frohes Newroz, Newroz pîroz be, und viel Erfolg für Eure weitere Arbeit! 🌸