Erfolg mit Schattenseiten: Ein Jahr Chancenaufenthaltsrecht in Sachsen

Dank des Chancenaufenthaltsrechts wurde bisher ungefähr 2.000 Geduldeten ein Aufenthalt erteilt. Diese Menschen lebten über Jahre im Freistaat, konnten aber oft weder arbeiten noch ihren Wohnort frei wählen. In fast allen Ausländerbehörden wurde die große Mehrheit der Anträge bewilligt. Trotz klarer Rechtsprechung des Bundes zeigt die Entscheidungspraxis für den Chancenaufenthalt im Freistaat kommunale Unregelmäßigkeiten auf.

Zum 01.01.2023 trat das von der Bundesregierung verabschiedete Chancenaufenthaltsrecht in Kraft. Ziel war es, jahrelange unsägliche Kettenduldungen zu beenden und Menschen, die sich mindestens fünf Jahre in Deutschland aufhielten, einen einjährigen Aufenthaltstitel zu erteilen. In dieser Zeit haben die Menschen die Chance, sich bspw. einen Beruf zu wählen und ihr Leben selbstständig zu gestalten.

„Vor der Einführung des Gesetzes waren viele Geduldete über Jahre in einer Art Schwebe-Status im Aufenthaltsrecht verdammt: Absolute Arbeitsverbote, stets in Angst vor Abschiebung und keine Chance Teil dieser Gesellschaft zu werden. Diese Unsicherheit hat auch tausende Menschen in Sachsen psychisch enorm belastet, sodass die Reform definitiv eine Verbesserung für den Personenkreis darstellt.“, kommentiert Kristian Garthus-Niegel vom Projekt RESQUE forward des Flüchtlingsrates.

Über Hälfte der Anträge unbearbeitet – Chance auf Aufenthalt bleibt verwehrt

In Sachsen wurden bereits über 4.700 Anträge dazu gestellt, jedoch nur knapp 2.100 Anträge beschieden. Diesen Bearbeitungsrückstau kritisierte bereits die Linken-Abgeordnete Juliane Nagel. Wo ein Bescheid erging, wurde in 85 Prozent der Fälle positiv entschieden. Ein Großteil der Antragstellenden hat also ein Recht auf Aufenthalt: „Umso kritischer sehen wir es, dass für noch immer über die Hälfte von ihnen der Zugang zum Aufenthaltsrecht auf die lange Bank geschoben wird, indem der Antrag schlicht nicht bearbeitet wird.“, kritisiert Dave Schmidtke vom Flüchtlingsrat und fordert weitere Personalaufstockungen in den zuständigen Behörden.

Ausufernde Erteilung des Fantasiepapiers blockiert Aufenthalt

Noch dramatischer ist die Situation für Geduldete, deren Antrag abgelehnt wurde. Mehrfach wurde Sachsens rechtlich fragwürdiges „Fantasiepapier“ herangezogen, um eine schädliche Unterbrechung der erforderlichen Voraufenthaltszeit zu behaupten. Dabei bestätigt das Bundesinnenministerium, dass solche Papiere für das Chancenaufenthaltsrecht unschädlich sind, wenn im Nachhinein ein Duldungsgrund festgestellt wurde. Obwohl das Sächsische Innenministerium(SMI) das genauso bestätigt hat, kennt der Flüchtlingsrat solche rechtsmissbräuchlichen Ablehnungen schon aus mehreren Landkreisen. Widersprüche dagegen sind aber nahezu zwecklos, da eine Antwort im Durchschnitt erst nach zwei Jahren erfolgt. In dieser Zeit können die Betroffenen jederzeit abgeschoben werden.

Ungeklärte Identität kein Ausschlussgrund

Auch sind dem Flüchtlingsrat Ablehnungen auf Grund einer ungeklärten Identität bekannt. Dieses Argument ist auf mehrfacher Ebene falsch, kritisiert Dave Schmidtke: „Dieses Gesetz wurde ja insbesondere dafür geschaffen, Menschen mit ungeklärter Identität aus dem dauerhaften Limbo der Duldung in ein Aufenthaltsrecht zu führen. Viele Geduldete können ihre Identität gar nicht oder nur sehr schwer klären. Seit der Machtübernahme der Taliban stellt die afghanische Botschaft zum Beispiel keine visafähigen Identitätsdokumente mehr aus. Dann gibt es Länder wie Indien, die eine Zusicherung, dass man in Deutschland bleiben darf, verlangt, um einen Pass auszustellen. Und dann noch „Failed states“ wie zum Beispiel Libyen, die gar kein arbeitsfähiges Konsularwesen mehr haben.“

Auffällig sind zudem exorbitant hohe Ablehnungsquoten in Dresden (ca. 52 Prozent zur Jahresmitte 2023) oder in Chemnitz (ca. 34 Prozent bis zum Jahresende). Garthus-Niegel weist hier auf notwendige Vereinheitlichung hin: „Das SMI war bisher zu passiv und müsste zukünftig eine aktivere Fachaufsicht zu den Bundes- und Landesvorschriften betreiben, um eine einheitliche Anwendung sicherzustellen. Wenn in Nordsachsen oder Görlitz 100 Prozent der Anträge positiv beschieden werden während in Dresden jeder zweite Antrag abgelehnt wird, dann läuft in der Steuerung und Aufsicht der Kommunen etwas gravierend falsch.“

Erst in 2024 wird sich die reale Wirksamkeit des Chancenaufenthaltsrechts zeigen

2024 ist das Jahr, in dem das Chancenaufenthaltsrecht ernsthaft auf die Probe gestellt werden soll: tausende Menschen, die in 2023 die Chance bekommen haben, sollen nun versuchen, den Schritt aus den Probeaufenthalt in ein dauerhaftes Bleiberecht zu schaffen. Damit das Chancenaufenthaltsrecht nicht im Endspurt stolpert, braucht es dringend einen Landeserlass, der eine einheitliche und wohlwollende Behördenpraxis bei dem Übergang sicherstellt. Dafür hat der Sächsische Flüchtlingsrat e.V. zusammen mit der LIGA der freien Wohlfahrtspflege in Sachsen schon eine Reihe von Expert:innen-Empfehlungen an das SMI überbracht. Nur wenn das Ministerium entsprechend reagiert, wird Sachsen aktiv Kettenduldungen bekämpfen.

 

Teile diesen Beitrag:

Bildquellen

  • IMG_9060-900×400: Pro Asyl