Newsletter 05/2023: 5.889 Asylsuchende in Sachsen / Fachkräfteeinwanderungsgesetz / EU-Tunesien-Deal / Handschlag oder Handschellen? / Asylinitiativen-Konferenz

Foto: Mika Baumeister

Liebe Newsletterabonnent*innen,

in unserem Themenbereich erleben wir momentan sehr ereignisreiche Zeiten. Einerseits beschäftigen wir uns mit der aktuellen Lage an den europäischen Außengrenzen sowie der geplanten GEAS-Reform, die weiterhin gravierende Menschenrechtsverletzungen aufdeckt. Andererseits gibt es auch lokal besorgniserregende Zustände, die das Leben der Geflüchteten unmittelbar beeinflussen. Der Angriff auf Geflüchtete in Sebnitz war ein erschütterndes Ereignis, welches wir in einer Pressemitteilung bewerteten. Trotzdem möchten wir auch in diesem Newsletter die Realität aufgreifen und zeigen, welche oft unsichtbaren Chancen und Handlungsmöglichkeiten denkbar wären, um demokratiefeindlichen Entwicklungen entgegenzutreten.

Wir wünschen Euch weiterhin einen angenehmen Sommer – trotz des verwirrenden Wetters, das sich der politischen Lage anzugleichen scheint.

In der ersten Jahreshälfte 5.889 Asylsuchende in Sachsen: Eine Chance oder ein Grund für Panik?

Wie von der Landesdirektion mitgeteilt wurde, sind in den ersten sechs Monaten dieses Jahres insgesamt 10.048 Asylsuchende in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Sachsen angekommen. Allerdings blieb mehr als die Hälfte der Asylsuchenden (5.889 Menschen) nicht im Freistaat, sondern wurde auf andere Bundesländer verteilt. Die Gesamtzahl der Asylsuchenden im Jahr 2022 betrug 18.474. Nach Statistiken des Ausländerzentralregisters kamen bis zum 31. Mai dieses Jahres die meisten Asylsuchenden aus Venezuela (1370), Syrien (869), Afghanistan (664), der Türkei (369), Georgien (180) und Russland (155). Im vergangenen Jahr kamen die meisten Asylsuchenden aus Syrien (3.937). Zudem wurden bis Ende Juni dieses Jahres 56.495 Geflüchtete aus der Ukraine in Sachsen erfasst.

De facto leben gerade 4.160 Personen (Quelle: Landesdirektion, Stand: 25.07.23) in den sächsischen Erstaufnahmeeinrichtungen, womit diese zu rund 52 Prozent ausgelastet sind. Zum Vergleich: im Vorjahr waren zwar die Zahlen der Asylsuchenden ähnlich, aber daneben wurden noch Unterbringung für zehntausende Ukrainer*innen organisiert. Während die Zahl der neu angekommenen sowie in Sachsen bleibenden Geflüchteten moderat bleibt, betreiben rechtspopulistische Kräfte Panikmache. In den Debatten, die auch von einigen Vertreter*innen der Landesregierung wie dem Ministerpräsidenten Michael Kretschmer migrationskritisch aufgegriffen werden, wird auf die vermeintliche Unkontrollierbarkeit der Fluchtmigration hingewiesen.

Unsere Frage lautet: Kann der Freistaat Sachsen mit mehr als 4 Millionen Einwohner*innen und einem enormen Bedarf an Arbeitskräften bzw. einer Stärkung des ländlichen Raums die Fluchtmigration wirklich nicht bewältigen und diese sogar zu einer Chance verwandeln? Oder bleibt man hier, aus Angst vor den Stimmen von Rechtsaußen, hinter seinen Möglichkeiten zurück?

Fachkräfteeinwanderungsgesetz: Chancen, insbesondere für Geflüchtete mit Duldung

Am 23. Juni 2023 hat der Deutsche Bundestag dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung zugestimmt. Die geplanten Gesetzesänderungen kommen vielen Geflüchteten zugute, die seit Jahren mit unsicherem Aufenthaltsstatus in Deutschland leben.

Die Abgeordnete der Grünen-Fraktion, Filiz Polat, erklärte in einer Rundmail, dass die Gesetzesänderungen die Ausbildungsduldung in einen Aufenthaltstitel umwandeln werden. Personen, die vor dem Stichtag des 29.03.2023 nach Deutschland eingereist sind und sich in einem laufenden Asylverfahren befinden, erhalten künftig die Möglichkeit, ihren Asylantrag zurückzuziehen und in bestimmte Aufenthaltstitel für Fachkräfte (§§ 18a, 18b oder §19c Absatz 2) zu wechseln, sofern sie die Voraussetzungen erfüllen. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband betonte die Notwendigkeit, die Sperrklauseln des §10 AufenthG vollständig zu streichen.

Zusätzlich beinhaltet das neue Gesetz die Erleichterung des Familiennachzugs: Eltern und Schwiegereltern von Fachkräften, denen am oder nach dem 1. März 2024 erstmalig ein Aufenthaltstitel als Fachkraft erteilt wird, können unter erleichterten Bedingungen nachziehen. Beim Nachzug der Kernfamilie von Fachkräften wird zudem künftig von der bisher geltenden Wohnraumerfordernis abgesehen. Diese Erleichterungen sind zu begrüßen, sollten jedoch nicht ausschließlich für Migrant*innen mit Aufenthaltstitel Fachkräfte gelten.

Um den Behörden zusätzliche Zeit für die Umsetzung einzuräumen, ist vorgesehen, dass einige der Neuregelungen ab November 2023 in Kraft treten, andere erst sechs bzw. neun Monate nach Verkündung des Gesetzes.

Der Gesamtinhalt des Pakets sowie die Reaktionen verschiedener Fraktionen sind auf der Homepage des Bundestags zu finden.

EU-Tunesien-Deal: Wenn nicht im Mittelmeer, dann in der Wüste!

Am 16. Juni unterzeichneten Tunesien und die Europäische Union (EU) eine Absichtserklärung zur Verhinderung von „irregulärer Migration“ über das Mittelmeer. Als Gegenleistung erhält die tunesische Regierung Finanzhilfen und Versprechen zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Unterzeichnung erfolgte in Tunis durch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, die Ministerpräsidentin Italiens Giorgia Meloni und den tunesischen Präsidenten Kais Saied. Die Zustimmung der EU-Mitgliedsstaaten steht noch aus.

Das unterzeichnete „Memorandum of Understanding“ nennt Migration als eine von „fünf Säulen“ des Pakets. Die EU verspricht dabei zunächst 105 Millionen Euro zur „Bekämpfung der irregulären Migration“, eine verstärkte „operative Partnerschaft gegen Menschenschmuggel und Menschenhandel“, die „Verbesserung der Koordinierung von Such- und Rettungsaktionen auf See“, eine „wirksame Grenzverwaltung“ sowie die „Entwicklung eines Systems zur Identifizierung und Rückführung irregulärer Migrant*innen“ aus Tunesien in ihre Herkunftsländer.

Beide Parteien sichern sich zudem gegenseitige Unterstützung zu bei der „Rückkehr und Rückübernahme von tunesischen Staatsangehörigen, die sich illegal in der EU aufhalten“, sowie bei deren „sozioökonomischen Wiedereingliederung in Tunesien“. Die von der EU seit 2018 geforderten Zentren für europäische Asylverfahren lehnt die tunesische Regierung hingegen weiterhin ab. Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung, insbesondere für Anschaffungen, Ausbildung und technische Mittel, könnte die tunesische Regierung von der EU bis zu 900 Millionen Euro erhalten.

Zeitgleich zur Unterzeichnung kursierten im Internet Bilder von Schutzsuchenden, die nach Massenabschiebungen durch tunesische Behörden ohne Wasser und Nahrung in der Wüste ausgesetzt wurden. Unter den Menschen befanden sich auch Kinder und Babys. Ein Foto zeigt eine verdurstete Frau neben einem am Boden liegenden Kind. Seawatch betonte, dass solche Bilder in der Region die Normalität darstellen, in die Journalist:innen und Hilfsorganisationen nicht eingelassen werden.

Der tunesische Regierungschef Saied ist bekannt für autoritäre Maßnahmen und für rassistische und sexistische Äußerungen. Im Februar forderte er, gegen „die illegale Einwanderung von Horden“ aus Ländern der Sahara vorzugehen. Tunesische Sicherheitskräfte drängen Geflüchtete immer wieder in unwirtliche Gebiete.

PRO ASYL kommentierte die Absichtserklärung mit folgenden Sätzen: „Mit der gemeinsamen Absichtserklärung gibt die EU der brutalen Flüchtlingspolitik des autokratischen Ministerpräsidenten Kaïs Saïed bewusst Rückendeckung. Der EU-Tunesien-Deal wird nicht zu weniger, sondern zu mehr Toten führen, da Fluchtrouten sich verschieben und noch gefährlicher werden. Die EU zeigt damit erneut, dass sie bereit ist, jeden menschenrechtlichen Preis zu zahlen, damit weniger Flüchtlinge in Europa ankommen.“

Handschlag vor der Kamera im Betrieb, Handschellen am Flughafen in Leipzig

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer besuchte am 17. Juli einen Betrieb und teilte ein Foto, auf dem er mit einer venezolanischen Mitarbeiterin im Gespräch war. Der Ministerpräsident schrieb: „Motivierte Fachkräfte aus dem Ausland und eine offene Belegschaft: FEP Fahrzeugelektrik Pirna wirkt dem Fachkräftemangel erfolgreich entgegen.”

In einem weiteren Tweet betonte Kretschmer, dass solches Potenzial in Zeiten wirtschaftlicher Transformation stärker genutzt werden müsse: durch schnellere Integration in den Arbeitsmarkt oder ein Berufsvorbereitungsjahr. Am gleichen Tag fand jedoch eine Abschiebung aus Leipzig statt: Ein berufstätiger Venezolaner wurde von Sachsen nach Caracas abgeschoben.

Diese simultanen Ereignisse zeigen einerseits offensichtliche Widersprüche, die sich in den Debatten zum Fachkräftemangel und dem Recht auf Asyl verdeutlicht. Andererseits wird komplett ignoriert, unter welchen Umständen das autoritäre Regime in Venezuela herrscht: Repression gegen demokratische Opposition, willkürliche Gewalt, Armut und Hunger, gefälschte Wahlen und über 7,2 Millionen Vertriebene.

Wir fordern: Keine Abschiebungen nach Venezuela! Aus demokratischer und menschenrechtlicher Perspektive halten wir die derzeitige Praxis für nicht vertretbar. Unser Text zu den Fluchtursachen bezüglich Venezuela liefert einige der Gründe dazu.

Schwimmende Gefängnisse und Abschiebungen von Syrer*innen nach Ruanda: Gesetz zur Migrationsbegrenzung des Vereinigten Königreiches alarmiert UN-Kommissar

Zeiten von Tendenzen oder Andeutungen sind längst vorbei: die Entrechtung von Menschen auf der Flucht schreitet mit großen Schritten voran. Inzwischen wird in ganz Europa immer offener gegen Fliehende gehetzt und dementsprechend auch deren Entrechtung politisch durchgesetzt. Dies muss nicht zwangsweise durch Beteiligung rechtsextremistischer Strömungen in Regierungen stattfinden, wie nun der britische Premier Rishi Sunak (Conservative Party) beweist.

Mehr als 500 Asylsuchende sollen zukünftig in einem schwimmenden Gefängnis, einem Lastkahn namens „Bibby Stockholm“, in der Nähe von Portland inhaftiert werden. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Türk erklärte gegenüber dem Guardian: „Dieser Gesetzentwurf schafft einen besorgniserregenden Präzedenzfall für den Abbau asylbezogener Verpflichtungen, dem andere Länder, auch in Europa, folgen könnten, was sich möglicherweise negativ auf das internationale Flüchtlings- und Menschenrechtsschutzsystem insgesamt auswirkt.“

Außerdem erhielten bereits mehr als 24.000 abgelehnte Asylbewerber*innen Briefe, dass sie nach Ruanda abgeschoben werden sollen. Dies geschah trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom Sommer 2022, der diese Pläne für rechtswidrig erklärte und einen Abschiebeflug in das ostafrikanische Land stoppte. Nun plant die britische Regierung vor dem Obersten Gerichtshof ihr Gesetzesvorhaben erneut bewerten zu lassen. Betroffen wären dann tausende Menschen aus Albanien, Syrien, Iran, Irak oder Afghanistan, die überhaupt keinen Bezug zum afrikanischen Kontinent besitzen. Diese Pläne stellen eine menschenunwürdige Absurdität dar, die leider in das Konzept der Migrationspolitik Europas im Jahr 2023 passen.

Familie Pham/Nguyen hat Chemnitz verlassen

Über 100.000 Unterschriften unserer Petition für den Verbleib der Familie in Sachsen, konnten zwar eine Abschiebung verhindern, aber nicht das Bleiberecht sichern. Aus fehlender Perspektive im Freistaat heraus, ist Familie Pham/Nguyen inzwischen in Berlin wohnhaft und hofft dort auf ein Einlenken der Behörden im bundesweit diskutierten Fall.

Seit 1987 hatte Pham Phi Son, ein ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter, in Sachsen gelebt. Auf einen zu langen Auslandsaufenthalt im Jahr 2016 folgte ein Jahr später der Entzug der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde Chemnitz. Zum damaligen Zeitpunkt hatte er die deutsche Staatsbürgerschaft für seine in Deutschland geborene Tochter Emilia beantragt. Es folgten ein Abschiebeversuch und zwei Jahre ohne jegliche Rechtssicherheit, in denen die Familie nur durch private finanzielle Zuwendungen die Existenz sichern konnte.

Obwohl Familie Pham/Nguyen sich tatkräftig um geforderte Integrationsnachweise bemühte, wussten sächsische Behörden nur wenig entgegenzukommen. So waren beide Elternteile unbefristet in der Gastronomie beschäftigt und reichten notwendige Sprachzertifikate ein. Immer wieder wurde die Familie, für Herrn Phams aufenthaltsrechtliche Fehler der Vergangenheit sanktioniert. Zuletzt drohte im Juni sogar die Familientrennung, als die Ausländerbehörde durch den Entzug der Duldungen signalisierte, Emilia und Frau Nguyen ohne den Familienvater abschieden zu wollen.

Nun arbeiten Anwältin Jenny Fleischer und Familie Pham/Nguyen an neuen Anträgen auf Aufenthalt in Berlin. Es bleibt der bittere Nachgeschmack, dass der Aufenthaltszeitraum eines ehemaligen DDR-Vertragsarbeiters von über 30 Jahren in Deutschland keinen Schutz vor Abschiebung bietet. Gleichzeitig bleibt aber auch zu hoffen, dass der enorme öffentliche Wiederhall auf die unverhältnismäßige aufenthaltsrechtliche Bestrafung dieser Familie zukünftig zum Umdenken bei sächsischen Behörden in ähnlich gelagerten Fällen führt.

11.Sächsische Asylinitiativen-Konferenz: Jetzt anmelden!

Stellst du dir auch viele Fragen darüber, wie Migration anders gestaltet werden könnte? Wie könnten wir, zum Beispiel, langfristig eine menschenwürdige Unterbringung gewährleisten? Wie können neue und erfahrene Strukturen erfolgreich miteinander verschmelzen? Was braucht es für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen migrantischen Organisationen? Wie kann man die Unterstützung für Schutzsuchende sichern? Wie sollten Behörden handeln und wie sähe wünschenswertes Handeln aus? Wie kann man mit verschiedenen Rechtsverletzungen umgehen und dagegen vorgehen?

Die 11. Sächsische Asylinitiativen-Konferenz findet am 28. Oktober 2023 an der Evangelischen Hochschule Dresden statt und wurde von einer Vielzahl verschiedener Akteur*innen organisiert. In den verschiedenen Workshops, dem Vortrag und der Podiumsdiskussion möchten wir einen Raum schaffen, in dem Engagement, Ideen, Fragen und mögliche Antworten zusammenkommen.

Ab sofort ist die Anmeldung unter www.asylini-konferenz.sfrev.de möglich!

STELLENANGEBOTE

  • Stellenangebot in Leipzig:

    Durch den ungewöhnlich hohen Anteil von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die im vergangenen Jahr in Sachsen ankamen, waren Inobhutnahmeeinrichtungen entsprechend gefordert. Für Betreuung und Versorgung der Kinder/Jugendlichen sucht der Kommunale Eigenbetrieb Leipzig/Engelsdorf personelle Verstärkung. Die Bewerbungsfrist ist am 11. August.

    Zum Stellenangebot

  • Stellenangebot in Chemnitz:

    Im Projekt RESQUE forward suchen wir, Sächsischer Flüchtlingsrat, zum 01. bzw. 15.09.2023 eine*n Projektmitarbeiter*in als Elternzeitvertretung am Standort Chemnitz. Bewerbungsfrist ist der 07.08.2023. Die Bewerbungsgespräche finden voraussichtlich in KW 33 oder 34 statt. Weitere Informationen finden Sie in der Stellenausschreibung. Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung!

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