Dresden, 28.03.2024
Liebe Newsletter-Abonnent*innen,
lasst uns Deutschland für einen Moment verlassen, bevor (oder damit?) wir uns wieder seiner Realität stellen.
An der westafrikanischen Küste gibt es Fischer*innen, die durch die EU-Maßnahmen nicht nur jegliche Lebensgrundlage, sondern auch ihr (mittlerweile leergefischtes) Meer verloren haben. Einige von ihnen haben aus der Erfahrung mit dem Meer ein neues, zeitgemäßes Geschäft gemacht: Vermietung und Verkauf von Booten an Flüchtlinge oder auch als Kapitäne auf der gefährlichen Überfahrt. Denn nicht trotz, sondern gerade wegen des Rohstoffreichtums herrscht in ihren Ländern absolute Armut, sodass ihnen keine andere Wahl bleibt.
In sächsischen Städten gibt es Geflüchtete aus Westafrika, die aus Familien stammen, die seit Generationen von der Fischerei lebten, diese aber mit einem Schlag verloren haben. Einige von ihnen unterliegen in Deutschland einem Arbeitsverbot, sodass sie entweder “herumsitzen” oder sich “irgendwie” verdingen müssen. Vor einigen ihrer Unterkünfte wird demonstriert, weil sie faul seien und den Wohlstand und die Sicherheit “unseres” Landes gefährden würden.
Was ist das Dazwischen dieser Geschichten? Wie und wer kann sich im Dazwischen niederlassen? Ist es überhaupt möglich, ein so grenzübergreifendes Bewusstsein und einen so weiten Kontext zu entfalten und zugänglich zu machen, die der (globalen) Realität mit ihren realen Konsequenzen gerecht wird?
Entweder wir beschäftigen uns mit den Fragen oder wir müssen mit den Antworten anderer leben.
Kein Sicherer Hafen mehr?
In Sachsen gibt es nicht wenige Menschen, die sich gegen verkürzte Antworten und für Menschenwürde einsetzen: So hat sich Dresden, die Landeshauptstadt, durch zivilgesellschaftliches Engagement 2022 zum Sicheren Hafen für Geflüchtete erklärt. Dennoch ist auch hier in den letzten Tagen zu beobachten, wie die verkürzten Antworten an Boden gewinnen. Die CDU brachte einen Antrag in den Stadtrat ein, der von AfD, Freien Wählern, FDP und PARTEI unterstützt wurde: Dresden ist kein Sicherer Hafen mehr für Geflüchtete – so der Beschluss. (Hier die Stellungnahme der Seebrücke Dresden.)
Einige in Politik und Verwaltung sind offenbar bemüht, diesem Beschluss Tatkraft zu verleihen. Unsere Recherchen zur Unterbringungssituation von Geflüchteten in Sachsen bringen einen Missstand nach dem anderen ans Licht. Mit einer Pressemitteilung haben wir auf die Situation in der Turnhalle Meinersdorf, einer kommunalen Notunterkunft im Erzgebirgskreis, aufmerksam gemacht: Hier leben 30 Menschen, darunter auch Kinder, unter unwürdigen Bedingungen – um sie herum verlassene oder brachliegende Wohnungen. In einem Kaff, irgendwo im Nirgendwo, schlafen sie auf Feldbetten und müssen die alltäglichen Herausforderungen und die komplizierte Bürokratie in einer Fremdsprache allein bewältigen. Wie das konkret aussieht, verdeutlicht eine Begegnung bei unserem Besuch: Wir wurden um eine Plastikschüssel gebeten, weil es nicht einmal eine Waschmaschine gibt und sie alles in einem Raum, in einem Waschbecken machen: Körperpflege, Wäsche, Essenszubereitung.
Geschärftes Wegschauen
Ab April kommt nicht nur die Cannabis-Legalisierung, das Gesprächsthema Nummer eins der letzten Zeit, sondern auch die Bezahlkarte für Geflüchtete: Alle zehn sächsischen Landkreise führen sie ein. Diese Maßnahme tangiert gleich mehrere Grundrechte -vom Selbstbestimmungsrecht über das Recht auf freie Anwaltswahl bis hin zur Freizügigkeit- und ist menschenverachtend samt dem Diskurs, der dahinter steht. Auf die Rechtswidrigkeit wurde bereits in jeder Hinsicht hingewiesen – eine abwägende Prüfung fand nicht statt.
Denn: Nicht nur der Blick kann geschärft werden, sondern auch das Wegschauen, die Ignoranz – fast wie in dem oscargekrönten Film „The Zone of Interest„. Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz haben dies ebenfalls gezeigt: Sie trafen sich, um die wichtigsten Themen zu besprechen und vereinbarten schnellere Abschiebungen, Leistungskürzungen und die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten.
Sieht man nur, was man auch sehen will?
Neue Projekte
Ein weiterer arbeitsreicher Monat liegt vor uns und wir sind froh, euch mitteilen zu können, dass wir mit neuen Projekten – Bienvenidos, Perspectives und Perspektive Bleiberecht Dresden– beginnen. (Mehr dazu unten in den Berichten aus dem Verein.) Auch wenn die Projekte nicht alles Verlorene auffangen und den enormen Bedarf nicht decken können, freuen wir uns, ab sofort mehr Beratung und Unterstützung für Geflüchtete in Sachsen anbieten zu können.
Wie immer findest du unseren Newsletter auch auf unserer Homepage oder auf unseren Kanälen in den sozialen Netzwerken. Wenn du der Meinung bist, dass noch mehr Menschen davon erfahren sollten, freuen wir uns, wenn du ihn teilst! Es wäre auch eine Idee, den Newsletter auszudrucken, zusammenzubinden und auf den Tisch am Arbeitsplatz, in der WG oder in der Schule zu legen. Vielen Dank!
Bis zum nächsten Mal!
Liebe Grüße
Öffentlichkeitsarbeit des Sächsischen Flüchtlingsrates
Berichte aus dem Verein
¡BIENVENIDOS!: Empowerment für Geflüchtete aus Venezuela
Am 1. März startete unser neues Projekt „¡BIENVENIDOS! Community Building für Geflüchtete aus Venezuela“, das für das Jahr 2024 durch das Landesprogramm „Integrative Maßnahmen“ sowie die UNO-Flüchtlingshilfe gefördert wird. Ziel des Projektes ist das Empowerment der immer größer werdenden Gruppe venezolanischer Asylsuchenden und Migrant*innen in Sachsen. Wir möchten lokale Communities von Venezolaner:innen herausbilden, aktivieren und stärken, sie mit einem Grundlagenwissen bezüglich Asylverfahren, Behördenstrukturen und mehr ausstatten und auf diese Weise zur Verbesserung der Integration beitragen. Dazu werden wir im Laufe des Jahres verschiedene Workshops, Veranstaltungen, spanischsprachige Infomaterialien, einen Newsletter und vieles mehr vorbereiten, das sich am Informationsbedarf der Community selbst und an ihrem Feedback ausrichtet.
An unseren ersten beiden Auftaktveranstaltungen am 07. und 11. März haben insgesamt 24 Venezolaner*innen teilgenommen und die Informationsbedarfe ihrer Community diskutiert. Genannt wurden unter anderem die verschiedenen aktuellen Gesetzesänderungen, zu denen mehr verlässliche Informationen in Spanisch benötigt werden, als auch Hilfestellungen für die Suche nach Deutschkursen oder Integrationsangebote über Sportvereine.
Neues Beratungsprojekt: “Perspektive Bleiberecht Dresden”
Seit dem 1. März arbeitet das neue Projekt „Perspektive Bleiberecht Dresden“ beim Sächsischen Flüchtlingsrat. Es bietet in Dresden lebenden Geflüchteten eine individuelle, unabhängige und ergebnisoffene Perspektivberatung an. Das Beratungsangebot richtet sich an Menschen mit Duldung, die absehbar von einer Bleiberechtsregelung profitieren können.
Das Kooperationsprojekt mit der Landeshauptstadt Dresden ist im Aktionsplan „Integration“ der Stadt Dresden verankert und wird bis Ende 2026 durch die regionale Fachkräfteallianz gefördert. Ziel des Projektes ist es, langjährig geduldete Menschen in Dresden auf dem Weg zu einem gesicherten Aufenthalt zu unterstützen und die Quote der erteilten Aufenthaltserlaubnisse zu erhöhen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird eine verstärkte Kooperation zwischen der Beratungsstelle und der Ausländerbehörde Dresden angestrebt.
Die Beratung findet nach vorheriger Terminvereinbarung von Dienstag bis Donnerstag im Büro des Sächsischen Flüchtlingsrates, Dammweg 3 in Dresden statt. Terminvereinbarungen sind per Mail, telefonisch und jeden Dienstag zwischen 9:00 und 15:00 Uhr direkt im Büro möglich.
Kontakt zum Projekt:
Dr. Ramona Sickert
Tel: 0351 79665155
Email: sickert@sfrev.de
Zwei Stellen in Chemnitz
Wir haben zwei Stellen im Raum Chemnitz zu besetzen!
Wir suchen
- für das Projekt „BIENVENIDOS – Community-Building für Geflüchtete aus Venezuela“ zum 15.04.2024 oder 01.05.2024
- im Projekt „PERSPECTIVES – Perspektivberatung für Geflüchtete in Sachsen“ zum 15.04.2024 oder 01.05.2024
jeweils eine*n Projektmitarbeiter*in in Vollzeit.
Die vollständigen Stellenausschreibungen sind auf unserer Homepage zu finden. Wir freuen uns über die Weiterleitung und Bewerbungen.
Pressemitteilung: Unwürdige Zustände in Notunterkunft in Meinersdorf
Familien mit Kindern, Rentner und Menschen mit Behinderung wohnen nach ihrer Flucht aus der Ukraine gemeinsam in der Turnhalle Meinersdorf, einer kommunalen Notunterkunft. Fehlende Beratung und Übersetzung, keine Küche, keine Angebote für Kinder – 30 Personen leben hier auf engstem Raum unter unwürdigen Bedingungen. Gleichzeitig steht im Erzgebirgskreis Wohnraum zur Verfügung und selbst Kapazitäten der Erstaufnahme würden eine humanere Form der Unterbringung zulassen. Unsere Pressemitteilung.
Frühlingsputz: Eine Zwischenbilanz der Entrechtung und Newroz
Newroz ist das Frühlingsfest vieler Gesellschaften. Millionen Menschen weltweit feiern an diesem Tag den Beginn des Frühlings, aber es bedeutet nicht nur die Wiederblüte der Bäume und die Begrüßung der Sonne, die nun tiefer eindringt. Viele Menschen verbinden mit Newroz den Aufbruch in ein neues Leben und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aus diesem Anlass haben wir einen Blogbeitrag mit einer Zwischenbilanz in unserem Bereich veröffentlicht. Der Beitrag wurde ursprünglich als Redebeitrag für die Demonstration des Bündnisses “Sachsen Muss Aufnehmen” am 21. März 2024 in Dresden geschrieben und dort verlesen. Wir wünschen allen unseren Freund*innen ein frohes Newroz, einen fröhlichen Frühling.
Pressemitteilung: Schutz für geflüchtete aus Palästina
Die Flüchtlingsräte Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg und Sachsen fordern Schutz für geflüchtete Menschen aus Palästina. Die unterzeichnenden Landesflüchtlingsräte kritisieren die Praxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), palästinensischen Geflüchteten einen sicheren Schutz in Deutschland vorzuenthalten: “Obwohl die durch Kriegsgewalt und Versorgungsnot gekennzeichnete Lage palästinensischer Schutzsuchender offensichtlich ist, verweigert das Asyl-Bundesamt (BAMF) eine Schutzgewährung für die Opfer von Krieg und Vertreibung.” Unsere Pressemitteilung.
Erfolg mit Schattenseiten: Ein Jahr Chancenaufenthaltsrecht in Sachsen
Dank des Chancenaufenthaltsrechts wurde bisher ungefähr 2.000 Geduldeten ein Aufenthalt erteilt. Diese Menschen lebten über Jahre im Freistaat, konnten aber oft weder arbeiten noch ihren Wohnort frei wählen. In fast allen Ausländerbehörden wurde die große Mehrheit der Anträge bewilligt. Trotz klarer Rechtsprechung des Bundes zeigt die Entscheidungspraxis für den Chancenaufenthalt im Freistaat kommunale Unregelmäßigkeiten auf.
„Vor der Einführung des Gesetzes waren viele Geduldete über Jahre in einer Art Schwebe-Status im Aufenthaltsrecht verdammt: Absolute Arbeitsverbote, stets in Angst vor Abschiebung und keine Chance Teil dieser Gesellschaft zu werden. Diese Unsicherheit hat auch tausende Menschen in Sachsen psychisch enorm belastet, sodass die Reform definitiv eine Verbesserung für den Personenkreis darstellt“, kommentiert Kristian Garthus-Niegel vom Projekt RESQUE forward des Sächsischen Flüchtlingsrates.
Unsere Pressemitteilung.
Update: Broschüre zu den Bedingungen in den Unterkünften
Wir arbeiten weiter an der Broschüre zu den Unterkünften (vor allem Erstaufnahmeeinrichtungen) in Sachsen. Die Broschüre soll, so die Absicht der Arbeitsgruppe, die Öffentlichkeit über die weitgehend ignorierten Missstände aufklären, auf Handlungsmöglichkeiten für Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen hinweisen und unsere Forderungen für eine menschenwürdige Unterbringung formulieren. Es haben sich bereits einige Menschen gemeldet, die ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit uns teilen möchten. Hast auch du etwas zu berichten? Dann melde dich bei uns: pr@sfrev.de
Update: Refugee-Fest in Dresden
Für das bereits angekündigte Refugee-Fest gibt es nun einen Termin: Das Festival findet am Wochenende vom 16. zum 18. August in Dresden statt. Es haben sich Arbeitsgruppen gebildet und wir beginnen Schritt für Schritt mit wichtigen organisatorischen und inhaltlichen Vorbereitungen. Dafür brauchen wir noch engagierte Menschen, Programmvorschläge oder Hilfe bei der Materialbeschaffung. In Kürze werden wir uns mit einer Veranstaltung an die Zivilgesellschaft bzw. die Öffentlichkeit wenden, um unser Vorhaben vorzustellen. Ideen im Kopf? Schreib uns: pr@sfrev.de
Veranstaltungshinweise
INFO-VERANSTALTUNG (DRESDEN)
Antiromaismus gestern und heute – Kontinuitäten und Widerstand
Vor 53 Jahren wurden am 8. April 1971 durch den Ersten Welt-Roma-Kongress in Orpington bei London die Grundlagen der weltweiten Emanzipationsbewegung von Rom*nja gelegt. Anlässlich dieses Tages laden wir euch zum >>Tresen gegen Antiromaismus<< in die kosmotique ein. Wir sprechen über >>Kontinuiäten der Verfolgung und Widerstandsgeschichte(n).<<
Wir freuen uns auf euch!
WANN: am Freitag, den 5. April 2024, um 19:00 Uhr
WO: kosmotique, Martin-Luther-Straße 13, Dresden
Gruppe gegen Antiromaismus in Kooperation mit dem Bündnis gegen Rassismus. Unterstützt durch den Sächsischen Flüchtlingsrat e.V und riesa efau. Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus.
Drei Stimmen aus der Presse
- Internationales Zentrum für Demokratie öffnet auf dem Chemnitzer Sonnenberg – MDR Sachsen
Am Sonntag ist im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg das Internationale Zentrum für Demokratie und Aktion (IZDA) eröffnet worden. Es soll eine Mischung aus Begegnungsstätte, kulturellen Angeboten und Hilfsangeboten für Menschen mit Migrationshintergrund werden.
- Auf der Flucht in der Bundesrepublik – a&k
„Dass sich Verkehrsunfälle mit »Schleuserfahrzeugen« in den letzten Monaten häuften, steht ziemlich sicher in Zusammenhang mit der Entscheidung der Bundesregierung, an den »Schleuserrouten« entlang der Grenzen vermehrte Kontrollen durchzuführen.“
- Kaltland – Zeit
Sie wundern sich über die Stille in den Cafés, arbeiten Nachtschichten bei Amazon und kriegen von der AfD wenig mit. Wie Asylbewerber ganz am Anfang Deutschland erleben.